by Friedrich Rückert (1788 - 1866)
Der Traum der Wittwe
Language: German (Deutsch)
In Basra eine Wittwe war Mit ihren beiden Söhnen, Sie zog sie fromm von Jahr zu Jahr Zum Guten und zum Schönen. Einst schlief sie in Gedanken ein An ihres Hauses Segen, Da trat der jüngste von den zwei'n Ihr aus dem Traum entgegen. Sprach: "Mütterchen, wir haben da Das Zicklein bei der Alten, Das überwächst die Mutter ja, Wenn wir's noch länger halten. Es saugt ihr ganz das Euter aus, Drum, eh' sie uns versiege, Schlacht' ich das Zicklein in das Haus, Und melke du die Ziege." Die Mutter sprach: "Es ist wohl wahr, Ich will es dir erlauben." Im Traum war alles ihr so klar, Sie konnte wach sich glauben. Da ging der Sohn, das Messer nahm Er aus dem Schrank und schliff es, Ging dann damit zum Stall und kam Zum Zicklein und ergriff es, Und schlachtet' es und brühet' es, Und schob es wohl beraten Zum Ofen ein, und glühet' es, Und zog's heraus gebraten. Die Mutter prüft' im Traum und Duft, Daß nichts war dran vergessen. Darauf er seinen Bruder ruft; Sie setzen sich und essen. Da sagt ihr ältster Sohn ein Wort, Das sie nicht mehr verstehet, Worauf zu ihm der jünge dort Her mit dem Messer gehet. Und bohrt ihm's Messer in den Leib, Daß er vom Blute rauchet. Vom Traum erwacht das arme Weib, In Schweiß vor Angst getauchet. Es fällt durchs Dach des Morgens Schein Und dämmert schon im Raume, Und wirklich tritt ihr Sohn herein, Ihr jüngster, wie im Traume, Spricht: "Mütterchen, wir haben da Das Zicklein bei der Alten, Das überwächst die Mutter ja, Wenn wir's noch länger halten. Es saugt ihr ganz das Euter aus, Drum, eh' sie uns versiege, Schlacht' ich das Zicklein in das Haus, Und melke du die Ziege." Die Mutter spricht: "Das ist wohl wahr, Ich will es dir erlauben." Da werden ihr die Bilder klar, Daß sie den Sinn ihr rauben. Hin geht der Sohn, das Messer nimmt Er aus dem Schrank und schleift es: Dem ältern Bruder ist's bestimmt, Die Schaudernde begreift es: Vom Lager sie sich raffen will, Die Glieder doch versagen den Dienst, Und wieder hält sie still Ohnmächtiges Verzagen. Sie sinkt in Schlaf zurück und ruft Laut des Propheten Namen. Er selber tritt aus Wolkenduft Und spricht: "In Gottes Namen! Was wirret dich?" Da giebt sie ganz Ihr Leid ihm in Verwahrung. Er wendet sich im Morgenglanz, Und spricht: "Traumoffenbarung!" Da tritt aus aufgetaner Wand Ein Weib hervor, ein holdes, Durchwirkt ihr Haar und ihr Gewand Von Sternen reinen Goldes. Er sprach zu ihr: "Was nahmst du vor Mit dieser armen Frommen?" Sie sprach: "Bei Gott, der dich erkor, Ich bin ihr nicht gekommen." Sie schwebt davon, er aber ruft Zur Wand: "O Traumverwirrung!" Ein unhold Weib tritt aus der Kluft Mit falschen Schmuck's Umflirrung. Er spricht zu ihr: "Was wolltest du Mit dieser frommen Alten?" Sie spricht: "Verstören ihre Ruh Mit falschen Schreck gestalten." Er spricht: "Geh hin, ich zürne nicht, Du tatest nur das Deine. Doch du o Weib, im hellen Licht Erwache frei vom Scheine. Geschlachtet ist das Zicklein schon, Die Söhne sind im Frieden Beim Schmaus und haben dir davon Den besten Teil beschieden."
Authorship:
- by Friedrich Rückert (1788 - 1866) [author's text not yet checked against a primary source]
Musical settings (art songs, Lieder, mélodies, (etc.), choral pieces, and other vocal works set to this text), listed by composer (not necessarily exhaustive):
- by Carl Loewe (1796 - 1869), "Der Traum der Wittwe", subtitle: "Eine arabische Legende", op. 142 [sung text checked 1 time]
Researcher for this text: Emily Ezust [Administrator]
This text was added to the website between May 1995 and September 2003.
Line count: 96
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