by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)
Ich bin derselbe noch, der kniete
Language: German (Deutsch)
Ich bin derselbe noch, der kniete vor dir im mönchischen Gewand: der tiefe, dienende Levite, den du erfüllt, der dich erfand. Die Stimme einer stillen Zelle, an der die Welt vorüberweht, – und du bist immer noch die Welle, die über alle Dinge geht. Es ist nichts andres. Nur ein Meer, aus dem die Länder manchmal steigen. Es ist nichts andres denn ein Schweigen von schönen Engeln und von Geigen, und der Verschwiegene ist der, zu dem sich alle Dinge neigen von seiner Stärke Strahlen schwer. Bist du denn alles, – ich der Eine, der sich ergibt und sich empört? Bin ich denn nicht das Allgemeine, bin ich nicht Alles, wenn ich weine, und du der Eine, der es hört? Hörst du denn etwas neben mir? Sind da noch Stimmen außer meiner? Ist da ein Sturm? Auch ich bin einer, und meine Wälder winken dir. Ist da ein Lied, ein krankes, kleines, das dich am Micherhören stört, – auch ich bin eines, höre meines, das einsam ist und unerhört. Ich bin derselbe noch, der bange dich manchmal fragte, wer du seist. Nach jedem Sonnenuntergange bin ich verwundet und verwaist, [ein blasser allem Abgelöster und ein Verschmähter jeder Schar, und alle Dinge stehn wie Klöster, in denen ich gefangen war. Dann brauch ich dich, du Eingeweihter, du sanfter Nachbar jeder Not, du meines Leidens leiser Zweiter, du Gott, dann brauch ich dich wie Brot. Du weißt vielleicht nicht, wie die Nächte für Menschen, die nicht schlafen, sind: da sind sie alle Ungerechte, der Greis, die Jungfrau und das Kind. Sie fahren auf wie totgesagt, von schwarzen Dingen nah umgeben, und ihre weißen Hände beben verwoben in ein wildes Leben, wie Hunde in ein Bild der Jagd. Vergangenes steht noch bevor, und in der Zukunft liegen Leichen, ein Mann im Mantel pocht am Tor, und mit dem Auge und dem Ohr ist noch kein erstes Morgenzeichen, kein Hahnruf ist noch zu erreichen. Die Nacht ist wie ein großes Haus. Und mit der Angst der wunden Hände reißen sie Türen in die Wände, – dann kommen Gänge ohne Ende, und nirgends ist ein Tor hinaus.]1 Und so, mein Gott, ist jede Nacht; immer sind welche aufgewacht, die gehn und gehn und dich nicht finden. Hörst du sie mit dem Schritt von Blinden das Dunkel treten? Auf Treppen, die sich niederwinden, hörst du sie beten? Hörst du sie fallen auf den schwarzen Steinen? Du mußt sie weinen hören; denn sie weinen. [Ich suche dich, weil sie vorübergehn an meiner Tür. Ich kann sie beinah sehn. Wen soll ich rufen, wenn nicht den, der dunkel ist und nächtiger als Nacht, den Einzigen, der ohne Lampe wacht und doch nicht bangt; den Tiefen, den das Licht noch nicht verwöhnt hat und von dem ich weiß, weil er mit Bäumen aus der Erde bricht und weil er leis als Duft in mein gesenktes Angesicht aus Erde steigt.]1
T. Medek sets stanzas 5, 6
W. Egk sets stanza 4
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View original text (without footnotes)Confirmed with Rainer Maria Rilke, Das Stunden-Buch, Insel-Verlag / Leipzig: Insel-Verlag, 1918, p.53
1 omitted by Medek.Authorship:
- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), no title, written 1901, appears in Das Stundenbuch, in 2. Das Buch von der Pilgerschaft, no. 3 [author's text checked 1 time against a primary source]
Musical settings (art songs, Lieder, mélodies, (etc.), choral pieces, and other vocal works set to this text), listed by composer (not necessarily exhaustive):
- by Werner Egk (1901 - 1983), "Spruch aus dem Stundenbuch", subtitle: "Da ist ein Lied", 1923-1926, stanza 4 [ soprano and strings ] [sung text not yet checked]
- by Tilo Medek (1940 - 2006), "Ich bin derselbe noch, der bange", 1980, copyright © 1982, stanzas 5,6 [ tenor and orchestra ], from cantata Gethsemane, no. 5, Unkel am Rhein : Medek [sung text checked 1 time]
Researcher for this page: Joost van der Linden [Guest Editor]
This text was added to the website: 2023-07-14
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