by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)
Zum ersten Mal seh ich dich aufstehn
Language: German (Deutsch)
Zum ersten Mal seh ich dich aufstehn hörengesagter fernster unglaublicher Kriegs-Gott. Wie so dicht zwischen die friedliche Frucht furchtbares Handeln gesät war, plötzlich erwachsenes. Gestern war es noch klein, bedurfte der Nahrung, mannshoch steht es schon da: morgen überwächst es den Mann. Denn der glühende Gott reißt mit Einem das Wachstum aus dem wurzelnden Volk, und die Ernte beginnt. Menschlich hebt sich das Feld ins Menschengewitter. Der Sommer bleibt überholt zurück unter den Spielen der Flur. Kinder bleiben, die spielenden, Greise, gedenkende, und die vertrauenden Frauen. Blühender Linden rührender Ruch durchtränkt den gemeinsamen Abschied und für Jahre hinaus behält es Bedeutung diesen zu atmen, diesen erfüllten Geruch. Bräute gehen erwählter: als hätte nicht Einer sich zu ihnen entschlossen, sondern das ganze Volk sich zu fühlen bestimmt. Mit langsam ermessendem Blick umfangen die Knaben den Jüngling, der schon hineinreicht in die gewagtere Zukunft: ihn, der noch eben hundert Stimmen vernahm, unwissend, welche im Recht sei, wie erleichtert ihn jetzt der einige Ruf; denn was wäre nicht Willkür neben der frohen, neben der sicheren Noth? Endlich ein Gott. Da wir den friedlichen oft nicht mehr ergriffen, ergreift uns plötzlich der Schlacht-Gott, schleudert den Brand: und über dem Herzen voll Heimat schreit, den er donnernd bewohnt, sein röthlicher Himmel.
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Confirmed with Dietmar Jaegle, Silke Weber [Red.], August 1914, Teil: Der Krieg im Archiv. Ein Kalendarium, August 1914, p.47. Note: Als unmittelbare Reaktion auf den Krieg schreibt Rilke am 2. und 3. August 1914 die Gedichtfolge Fünf Gesänge in seinen Band mit Hölderlin-Gedichten
Authorship:
- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), no title, appears in Letzte Gedichte, in Fünf Gesänge, no. 1 [author's text checked 1 time against a primary source]
Musical settings (art songs, Lieder, mélodies, (etc.), choral pieces, and other vocal works set to this text), listed by composer (not necessarily exhaustive):
- by Hans Feiertag (1911 - 1943), "Krieg" [ voice and piano ] [sung text not yet checked]
Researcher for this page: Joost van der Linden [Guest Editor]
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