Wie ist der hülflos, der mit nichts als Worten aussagen soll wie er dich fühlt und sieht; dieweil dein Leben festlich sich vollzieht wie aufgehoben, wie in Sopraporten in welchen neben dir ein Engel kniet. Ein Engel - : ein im Himmlischen Zerstreuter, der um dich ist seitdem du hier erschienst; kaum jemals trauriger, kaum je erfreuter, doch immer strahlender in deinem Dienst: so hingegeben wie an große Räume an dich, du weite, unbekannte Welt, und wie ein Kind in seine ersten Träume so atemlos in dich hineingestellt. Beschäftigt, dir dein Leben hinzureichen, die Stunde, die du grade ihm bestimmst, und schwindelnd von der Größe ohne gleichen mit der du sie aus seinen Händen nimmst: verbraucht er seine vielen Ewigkeiten in deiner Zeit wie einen kurzen Tag. Er wird nie wieder heimgekehrt zu seiten der andern Engel im Aeropag des Himmels stehn; auch nicht im Weltgerichte. Sein Platz wird leer sein auf der Engelsbank. Doch man wird sagen von dem Angesichte an dem ein Engel lebte und ertrank.
Liederen , opus 16
by Leopold Spinner (1906 - 1980)
1. Der Engel  [sung text not yet checked]
Authorship:
- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), "Der Engel", appears in Die Gedichte 1906 bis 1910
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2. Die Schwestern  [sung text not yet checked]
Sieh, wie sie dieselben Möglichkeiten anders an sich tragen und verstehn, so als sähe man verschiedne Zeiten durch zwei gleiche Zimmer gehn. Jede meint die andere zu stützen, während sie doch müde an ihr ruht; und sie können nicht einander nützen, denn sie legen Blut auf Blut, wenn sie sich wie früher sanft berühren und versuchen, die Allee entlang sich geführt zu fühlen und zu führen: Ach, sie haben nicht denselben Gang.
Authorship:
- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), "Die Schwestern", appears in Der neuen Gedichte anderer Teil
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3a. Die Insel  [sung text not yet checked]
Die nächste Flut verwischt den Weg im Watt, und alles wird auf allen Seiten gleich; die kleine Insel draußen aber hat die Augen zu; verwirrend kreist der Deich um ihre Wohner, die in einen Schlaf geboren werden, drin sie viele Welten verwechseln schweigend; denn sie reden selten, und jeder Satz ist wie ein Epitaph für etwas Angeschwemmtes, Unbekanntes, das unerklärt zu ihnen kommt und bleibt. Und so ist alles, was ihr Blick beschreibt, von Kindheit an: nicht auf sie Angewandtes, zu Großes, Rücksichtsloses, Hergesandtes, das ihre Einsamkeit noch übertreibt.
Authorship:
- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), no title, appears in Neue Gedichte, in Die Insel - Nordsee, no. 1
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Confirmed with Rainer Maria Rilke, Neue Gedichte, Leipzig Insel-Verlag 1920
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3b. Die Insel  [sung text not yet checked]
Als läge er in einem Kraterkreise auf einem Mond: ist jeder Hof umdämmt, und drin die Gärten sind auf gleiche Weise gekleidet und wie Waisen gleich gekämmt von jenem Sturm, der sie so rauh erzieht und tagelang sie bange macht mit Toden. Dann sitzt man in den Häusern drin und sieht in schiefen Spiegeln, was auf den Kommoden Seltsames steht. Und einer von den Söhnen tritt abends vor die Tür und zieht ein Tönen aus der Harmonika wie Weinen weich; so hörte ers in einem fremden Hafen--. Und draußen formt sich eines von den Schafen ganz groß, fast drohend, auf dem Außendeich.
Authorship:
- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), no title, appears in Neue Gedichte, in Die Insel - Nordsee, no. 2
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Confirmed with Rainer Maria Rilke, Neue Gedichte, Leipzig Insel-Verlag 1920
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3c. Die Insel  [sung text not yet checked]
Nah ist nur Innres; alles andre fern. Und dieses Innere gedrängt und täglich mit allem überfüllt und ganz unsäglich. Die Insel ist wie ein zu kleiner Stern, welchen der Raum nicht merkt und stumm zerstört in seinem unbewußten Furchtbarsein, so daß er, unerhellt und überhört, allein, damit dies alles doch ein Ende nehme, dunkel auf einer selbsterfundnen Bahn versucht zu gehen, blindlings, nicht im Plan der Wandelsterne, Sonnen und Systeme.
Authorship:
- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), no title, appears in Neue Gedichte, in Die Insel - Nordsee, no. 3
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Confirmed with Rainer Maria Rilke, Neue Gedichte, Leipzig Insel-Verlag 1920
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