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by Hugo Hofmann, Edler von Hofmannsthal (1874 - 1929)

Dies ist der Brief, den Philip Lord...
Language: German (Deutsch) 
Dies ist der Brief, den Philip Lord Chandos, 
jüngerer Sohn des Earl of Bath, 
an Francis Bacon, später Lord Verulam und Viscount St. Albans, 
schrieb, um sich bei diesem Freunde wegen 
des gänzlichen Verzichtes 
auf literarische Betätigung zu entschuldigen.
Es ist gütig von Ihnen, mein hochverehrter Freund, 
mein zweijähriges Stillschweigen zu übersehen 
und so an mich zu schreiben. 
Es ist mehr als gütig, Ihrer Besorgnis um mich, 
Ihrer Befremdung über die geistige Starrnis, 
in der ich Ihnen zu versinken scheine, 
den Ausdruck der Leichtigkeit und des Scherzes zu geben, 
den nur große Menschen, die von der Gefährlichkeit 
des Lebens durchdrungen und dennoch nicht entmutigt sind, 

in ihrer Gewalt haben.
Sie schließen mit dem Aphorisma des Hippokrates: 
»Qui gravi morbo correpti dolores non sentiunt, iis mens aegrotat« 
und meinen, ich bedürfe der Medizin nicht nur,
 um mein Übel zu bändigen, sondern noch mehr, 
um meinen Sinn für den Zustand meines Innern zu schärfen. 
Ich möchte Ihnen so antworten, wie Sie es um mich verdienen, 
möchte mich Ihnen ganz aufschließen, und weiß nicht, 
wie ich mich dazu nehmen soll. Kaum weiß ich, 
ob ich noch derselbe bin, 
an den Ihr kostbarer Brief sich wendet; bin denn ich's, 
der nun Sechsundzwanzigjährige, der mit neunzehn jenen 
»neuen Paris«, jenen »Traum der Daphne«, jenes »Epithalamium«
 hinschrieb, diese unter dem Prunk ihrer Worte 
hintaumelnden Schäferspiele, 
deren eine himmlische Königin und einige allzu nachsichtige Lords 
und Herren sich noch zu entsinnen gnädig genug sind?
Und bin ich's wiederum, der mit dreiundzwanzig 
unter den steinernen Lauben des großen Platzes von Venedig 
in sich jenes Gefüge lateinischer Perioden fand, 
dessen geistiger Grundriß und Aufbau ihn im Innern 
mehr entzückte als die aus dem Meer auftauchenden Bauten 
des Palladio und Sansovin? Und konnte ich, wenn ich anders 
derselbe bin, alle Spuren und Narben dieser Ausgeburt 
meines angespanntesten Denkens so völlig aus meinem 
unbegreiflichen Inneren verlieren, daß mich in Ihrem Brief, 
der vor mir liegt, der Titel jenes kleinen Traktates fremd 
und kalt anstarrt, ja daß ich ihn nicht als ein geläufiges 
Bild zusammengefaßter Worte sogleich auffassen, 
sondern nur Wort für Wort verstehen konnte, 
als träten mir diese lateinischen Wörter, so verbunden, 
zum ersten Mal vors Auge?
Allein ich bin es ja doch, und es ist Rhetorik in diesen Fragen, 
Rhetorik, die gut ist für Frauen oder für das Haus der Gemeinen, 
deren von unsrer Zeit so überschätzte Machtmittel 
aber nicht hinreichen, ins Innere der Dinge zu dringen.
Mein Innres aber muß ich Ihnen darlegen, eine Sonderbarkeit, 
eine Unart, wenn Sie wollen eine Krankheit meines Geistes, 
wenn Sie begreifen sollen, 
daß mich ein ebensolcher brückenloser Abgrund 
von den scheinbar vor mir liegenden literarischen Arbeiten trennt, 
als von denen, die hinter mir sind und die ich, 
so fremd sprechen sie mich an, 
mein Eigentum zu nennen zögere.
Ich weiß nicht, ob ich mehr die Eindringlichkeit Ihres Wohlwollens 
oder die unglaubliche Schärfe Ihres Gedächtnisses bewundern soll, 
wenn Sie mir die verschiedenen kleinen Pläne wieder hervorrufen, 
mit denen ich mich in den gemeinsamen Tagen schöner Begeisterung trug. 
Wirklich, ich wollte 
die ersten Regierungsjahre unseres verstorbenen 
glorreichen Souveräns, des achten Heinrich, darstellen!
Die hinterlassenen Aufzeichnungen meines Großvaters, 
des Herzogs von Exeter, über seine Negoziationen mit Frankreich 
und Portugal gaben mir eine Art von Grundlage.
 Und aus dem Sallust floß in jenen glücklichen belebten Tagen 
wie durch nie verstopfte Röhren die Erkenntnis 
der Form in mich herüber, 
jener tiefen wahren inneren Form, die jenseits des Geheges 
der rhetorischen Kunststücke erst geahnt werden kann, die, 
von welcher man nicht mehr sagen kann, 
daß sie das Stoffliche anordne, 
denn sie durchdringt es, sie hebt es auf und schafft Dichtung 
und Wahrheit zugleich, ein Widerspiel ewiger Kräfte, ein Ding, 
herrlich wie Musik und Algebra. Dies war mein Lieblingsplan.
Was ist der Mensch, daß er Pläne macht!
Ich spielte auch mit anderen Plänen. 
Ihr gütiger Brief läßt auch diese heraufschweben. 
Jedweder vollgesogen mit einem Tropfen meines Blutes, 
tanzen sie vor mir wie traurige Mücken an einer düsteren Mauer, 
auf der nicht mehr die grelle Sonne der glücklichen Tage liegt.
Ich wollte die Fabeln und mythischen Erzählungen, 
welche die Alten uns hinterlassen haben,
 und an denen die Maler und Bildhauer ein endloses 
und gedankenloses Gefallen finden, aufschließen 
als die Hieroglyphen einer geheimen, unerschöpflichen Weisheit, 
deren Anhauch ich manchmal, 
wie hinter einem Schleier zu spüren meinte.
Ich entsinne mich dieses Planes. 
Es lag ihm ich weiß nicht welche sinnliche 
und geistige Lust zugrunde: wie der gehetzte Hirsch ins Wasser, 
sehnte ich mich hinein in diese nackten glänzenden Leiber, 
in diese Sirenen und Dryaden, diesen Narcissus und Proteus, 
Perseus und Actäon: verschwinden wollte ich in ihnen, 
und aus ihnen heraus mit Zungen reden. Ich wollte. 
Ich wollte noch vielerlei. Ich gedachte eine Sammlung 
»Apophthegmata« anzulegen, 
wie deren eine Julius Caesar verfaßt hat: 
Sie erinnern die Erwähnung in einem Brief des Cicero.
Hier gedachte ich die merkwürdigsten 
Aussprüche nebeneinander zu setzen, 
welche mir im Verkehr mit den gelehrten Männern 
und den geistreichen Frauen unserer Zeit, 
oder mit besonderen Leuten
 aus dem Volk, oder mit gebildeten und ausgezeichneten Personen 
auf meinen Reisen zu sammeln gelungen wäre; 
damit wollte ich schöne Sentenzen und Reflexionen 
aus den Werken der Alten und der Italiener vereinigen 
und was mir sonst an geistigem Zierathen in Büchern, 
Handschriften oder Gesprächen entgegenträte; 
ferner die Anordnung besonders schöner Feste und Aufzüge, 
merkwürdige Verbrechen und Fälle von Raserei, 
die Beschreibung der größten und eigentümlichsten Bauwerke 
in den Niederlanden, in Frankreich und Italien 
und noch vieles andere. 
Das ganze Werk aber sollte den Titel 'Nosce te ipsum' führen.
Um mich kurz zu fassen: 
Mir erschien damals in einer Art von andauernder Trunkenheit 
das ganze Dasein als eine große Einheit: geistige 
und körperliche Welt 
schien mir keinen Gegensatz zu bilden, ebensowenig höfisches 
und tierisches Wesen, Kunst und Unkunst, 
Einsamkeit und Gesellschaft; 
in allem fühlte ich Natur, in den Verirrungen 
des Wahnsinns ebensowohl wie in den äußersten Verfeinerungen 
eines spanischen Zeremoniells; 
in den Tölpelhaftigkeiten junger Bauern nicht minder als 
in den süßesten Allegorien; und in aller 
Natur fühlte ich mich selber; 
wenn ich auf meiner Jagdhütte die schäumende laue Milch 
in mich hineintrank, die ein struppiges 
Mensch einer schönen sanftäugigen Kuh
 aus dem strotzenden Euter in einen Holzeimer niedermolk, 
so war mir das nichts anderes, als wenn ich, 
in der dem Fenster eingebauten Bank meines studio sitzend, 
aus einem Folianten süße und schäumende 
Nahrung des Geistes in mich sog.
Das eine war wie das andere; 
keines gab dem andern weder an traumhafter überirdischer Natur, 
noch an leiblicher Gewalt nach, und so gings fort durch 
die ganze Breite des Lebens, rechter und linker Hand; 
überall war ich mitten drinnen, 
wurde nie ein Scheinhaftes gewahr: 
Oder es ahnte mir, alles wäre Gleichnis 
und jede Kreatur ein Schlüssel 
der anderen, und ich fühlte mich wohl den, 
der im Stande wäre, eine nach 
der andern bei der Krone zu packen 
und mit ihr so viele der andern aufzusperren, als sie aufsperren könnte. 
Soweit erklärt sich der Titel, den ich jenem enzyklopädischen
 Buch zu geben gedachte.
Es möchte dem, der solchen Gesinnungen zugänglich ist, 
als der wohlangelegte Plan einer göttlichen Vorsehung erscheinen, 
daß mein Geist aus einer so aufgeschwollenen Anmaßung 
in dieses Äußerste von Kleinmuth und Kraftlosigkeit 
zusammensinken mußte, 
welches nun die bleibende Verfassung meines Inneren ist. 
Aber dergleichen religiöse Auffassungen 
haben keine Kraft über mich; 
sie gehören zu den Spinnennetzen, 
durch welche meine Gedanken durchschießen, hinaus ins Leere, 
während so viele ihrer Gefährten dort hangen bleiben 
und zu einer Ruhe kommen. 
Mir haben sich die Geheimnisse des Glaubens zu einer erhabenen 
Allegorie verdichtet, die über den Feldern meines Lebens steht 
wie ein leuchtender Regenbogen, in einer stetigen Ferne, 
immer bereit, zurückzuweichen, wenn ich mir einfallen ließe, 
hinzueilen und mich in den Saum meines Mantels hüllen zu wollen.
Aber, mein verehrter Freund, auch die irdischen Begriffe 
entziehen sich mir in der gleichen Weise. Wie soll ich es versuchen, 
Ihnen diese seltsamen geistigen Qualen zu schildern, 
dies Emporschnellen der Fruchtzweige 
über meinen ausgereckten Händen, 
dies Zurückweichen des murmelnden 
Wassers vor meinen dürstenden Lippen?
Mein Fall ist, in Kürze, dieser: 
Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen,
 über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.
Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, 
ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen 
und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch 
alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen.
Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte »Geist«, 
»Seele« oder »Körper« nur auszusprechen.
 Ich fand es innerlich unmöglich, 
über die Angelegenheiten des Hofes, 
die Vorkommnisse im Parlament oder was Sie sonst wollen, 
ein Urtheil herauszubringen. 
Und dies nicht etwa aus Rücksichten irgendwelcher Art, 
denn Sie kennen meinen 
bis zur Leichtfertigkeit gehenden Freimut: 
sondern die abstrakten Worte, deren sich 
doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, 
um irgendwelches Urtheil an den Tag zu geben, 
zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.
Es begegnete mir, daß ich meiner vierjährigen 
Tochter Catarina Pompilia 
eine kindische Lüge, deren sie sich schuldig gemacht hatte, 
verweisen und sie auf die Notwendigkeit, immer wahr zu sein, 
hinführen wollte, 
und dabei die mir im Munde zuströmenden Begriffe plötzlich 
eine solche schillernde Färbung annahmen
 und so ineinander überflossen, 
daß ich, den Satz, so gut es ging, zu Ende haspelnd, 
so wie wenn mir unwohl geworden wäre und auch tatsächlich bleich 
im Gesicht und mit einem heftigen Druck auf der Stirn, 
das Kind allein ließ, 
die Tür hinter mir zuschlug und mich erst zu Pferde, 
auf der einsamen Hutweide einen guten Galopp nehmend, 
wieder einigermaßen herstellte.
Allmählich aber breitete sich diese Anfechtung aus wie ein 
um sich fressender Rost. Es wurden mir auch im familiären 
und hausbackenen Gespräch alle die Urtheile, die leichthin 
und mit schlafwandelnder 
Sicherheit abgegeben zu werden pflegen, 
so bedenklich, daß ich aufhören mußte, 
an solchen Gesprächen irgend teilzunehmen.
Mit einem unerklärlichen Zorn, 
den ich nur mit Mühe notdürftig verbarg, 
erfüllte es mich, dergleichen zu hören wie: diese Sache ist für den 
oder jenen gut oder schlecht ausgegangen; Sheriff N. ist ein böser, 
Prediger T. ein guter Mensch; Pächter M. ist zu bedauern, 
seine Söhne sind Verschwender; ein anderer ist zu beneiden, 
weil seine Töchter haushälterisch sind; 
eine Familie kommt in die Höhe,
 eine andere ist am Hinabsinken. 
Dies alles erschien mir so unbeweisbar, 
so lügenhaft, so löcherig wie nur möglich. Mein Geist zwang mich, 
alle Dinge, die in einem solchen Gespräch vorkamen, 
in einer unheimlichen Nähe zu sehen: so wie ich einmal 
in einem Vergößerungsglas ein Stück von der Haut 
meines kleinen Fingers gesehen hatte, das einem Blachfeld 
mit Furchen und Höhlen glich, so ging es mir nun 
mit den Menschen und Handlungen.
Es gelang mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachenden Blick 
der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, 
die Teile wieder in Teile und nichts mehr ließ sich 
mit einem Begriff umspannen. 
Die einzelnen Worte schwammen um mich; 
sie gerannen zu Augen die mich anstarrten 
und in die ich wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie,
 in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen 
und durch die hindurch man ins Leere kommt.
Ich machte einen Versuch, mich aus diesem Zustand 
in die geistige Welt der Alten hinüberzuretten. Platon vermied ich, 
denn mir graute vor der Gefährlichkeit seines bildlichen Fluges.
 Am meisten gedachte ich mich an Seneca und Cicero zu halten. 
An dieser Harmonie begrenzter und geordneter Begriffe
 hoffte ich zu gesunden. Aber ich konnte nicht zu ihnen hinüber. 
Diese Begriffe, ich verstand sie wohl: ich sah ihr wundervolles 
Verhältnisspiel vor mir aufsteigen wie herrliche Wasserkünste, 
die mit goldenen Bällen spielen. Ich konnte sie umschweben 
und sehen wie sie zueinander spielten; aber sie hatten e
s nur miteinander zu tun und das Tiefste, das persönliche meines 
Denkens blieb von ihrem Reigen ausgeschlossen. Es überkam 
mich unter ihnen das Gefühl furchtbarer Einsamkeit; mir war 
zumuth wie einem, der in einem Garten mit lauter augenlosen 
Statuen eingesperrt wäre; ich flüchtete wieder ins Freie.
Seither führe ich ein Dasein, das Sie, fürchte ich, 
kaum begreifen können, 
so geistlos, ja gedankenlos fließt es dahin; ein Dasein, 
das sich freilich von dem meiner Nachbarn, meiner Verwandten 
und der meisten landbesitzenden Edelleute dieses Königreiches 
kaum unterscheidet, und das nicht ganz ohne freudige 
und belebende Augenblicke ist. Es wird mir nicht leicht, 
Ihnen anzudeuten, worin diese guten Augenblicke bestehen; 
die Worte lassen mich wiederum im Stich. 
Denn es ist ja etwas völlig Unbenanntes, 
und auch wohl kaum Benennbares, das in solchen Augenblicken, 
irgendeine Erscheinung meiner alltäglichen Umgebung 
mit einer überschwellenden Flut höheren 
Leben wie ein Gefäß erfüllend, 
mir sich ankündet.
Ich kann nicht erwarten, daß Sie mich ohne Beispiel verstehen, 
und ich muß Sie um Nachsicht für die Kläglichkeit 
meiner Beispiele bitten.
 Eine Gießkanne, eine auf dem Feld verlassene Egge, 
ein Hund in der Sonne, 
ein ärmlicher Kirchhof, ein Krüppel, ein kleines Bauernhaus, 
alles dies kann das Gefäß meiner Offenbarung werden.
 Jeder dieser Gegenstände und die tausend anderen ähnlichen, 
über die sonst ein Auge mit selbstverständlicher Gleichgültigkeit 
hinweggleitet, kann für mich plötzlich in irgendeinem Moment, 
den herbeizuführen auf keine Weise in meiner Gewalt steht, 
ein erhabenes und rührendes Gepräge annehmen, 
das auszudrücken mir alle Worte zu arm scheinen.
Ja, es kann auch die bestimmte Vorstellung
 eines abwesenden Gegenstandes sein, 
der die unbegreifliche Auserwählung zu Theil wird, 
mit jener sanft oder jäh steigenden Flut göttlichen Gefühles bis 
an den Rand gefüllt zu werden. So hatte ich unlängst
 den Auftrag gegeben, den Ratten in den Milchkellern 
eines meiner Meierhöfe ausgiebig Gift zu streuen. 
Ich ritt gegen Abend aus und dachte, wie Sie vermuten können, 
nicht weiter an diese Sache. 
Da, wie ich im tiefen aufgeworfenen Ackerboden Schritt reite, 
nichts Schlimmeres in meiner Nähe als eine aufgescheuchte 
Wachtelbrut und in der Ferne über den welligen Feldern 
die große sinkende Sonne, tut sich mir im Innern plötzlich 
dieser Keller auf, erfüllt mit dem Todeskampf dieses 
Volks von Ratten.
Alles war in mir: die mit dem süßlich scharfen Geruch des 
Giftes angefüllte kühl-dumpfe Kellerluft und das Gellen der
 Todesschreie, die sich an modrigen Mauern brachen; 
diese ineinander geknäulten Krämpfe der Ohnmacht, 
durcheinander hinjagenden Verzweiflungen; 
das wahnwitzige Suchen der Ausgänge; der kalte Blick der Wut, 
wenn zwei einander an der verstopften Ritze begegnen. 
Aber was versuche ich wiederum Worte, die ich verschworen habe!
Sie entsinnen sich, mein Freund,
 der wundervollen Schilderung von den Stunden, 
die der Zerstörung von Alba Longa vorhergehen,
 aus dem Livius? Wie sie die Straßen durchirren, 
die sie nicht mehr sehen sollen ...
 wie sie von den Steinen des Bodens Abschied nehmen ... 
Ich sage Ihnen, mein Freund, dieses trug ich in mir
 und das brennende Karthago zugleich; aber es war mehr, 
es war göttlicher, tierischer; und es war Gegenwart, 
die vollste erhabenste Gegenwart.
Da war eine Mutter, die ihre sterbenden Jungen
 um sich zucken hatte und nicht auf die Verendenden, 
nicht auf die unerbittlichen steinernen Mauern, 
sondern in die leere Luft, oder durch die Luft ins Unendliche
 hin Blicke schickte, und diese Blicke mit einem Knirschen begleitete! -
 wenn ein dienender Sklave voll ohnmächtigen Schauders 
in der Nähe der erstarrenden Niobe stand, der muß das 
durchgemacht haben, was ich durchmachte, als in mir
 die Seele dieses Tieres gegen das ungeheure Verhängnis
 die Zähne bleckte.
Vergeben Sie mir diese Schilderung, aber denken Sie nicht, 
daß es Mitleid war, was mich erfüllte. Das dürfen Sie ja nicht 
denken, sonst hätte ich mein Beispiel ungeschickt gewählt. 
Es war viel mehr und viel weniger als Mitleid: ein ungeheures
 Anteilnehmen, ein Hinüberfließen in jene Geschöpfe oder ein 
Fühlen, daß ein Fluidum des Lebens und Todes, des Traumes 
und Wachens für einen Augenblick in sie hinübergeflossen ist 
- von woher? Denn was hätte es mit Mitleid zu tun, 
was mit begreiflicher menschlicher Gedankenverknüpfung, 
wenn ich an einem anderen Abend unter einem Nußbaum 
eine halbvolle Gießkanne finde, die ein Gärtnerbursche 
dort vergessen hat, und wenn mich diese Gießkanne 
und das Wasser in ihr, das vom Schatten des Baumes finster ist, 
und ein Schwimmkäfer, der auf dem Spiegel dieses Wassers 
von einem dunklen Ufer zum andern rudert, wenn diese 
Zusammensetzung von Nichtigkeiten mich mit einer solchen 
Gegenwart des Unendlichen durchschauert, von den Wurzeln 
der Haare bis ins Mark der Fersen mich durchschauert, 
daß ich in Worte ausbrechen möchte, von denen ich weiß, 
fände ich sie, so würden sie jene Cherubim, an die ich nicht glaube, 
niederzwingen, und daß ich dann von jener 
Stelle schweigend mich wegkehre, und nun nach Wochen, 
wenn ich dieses Nußbaums ansichtig werde, 
mit scheuem seitlichen Blick daran vorübergehe, 
weil ich das Nachgefühl des Wundervollen, das dort 
um den Stamm weht, nicht verscheuchen will, nicht vertreiben
 die mehr als irdischen Schauer,
 die um das Buschwerk in jener Nähe immer noch nachwogen.
In diesen Augenblicken wird eine nichtige Kreatur, ein Hund,
 eine Ratte, 
ein Käfer, ein verkrümmter Apfelbaum, ein sich über den Hügel 
schlängelnder Karrenweg, ein moosbewachsener Stein mir mehr 
als die schönste hingebendste Geliebte der glücklichsten 
Nacht mir je gewesen ist. Diese stummen und manchmal 
unbelebten Kreaturen heben sich mir mit einer solchen Fülle, 
einer solchen Gegenwart der Liebe entgegen, daß mein beglücktes 
Auge auch ringsum auf keinen toten Fleck zu fallen vermag.
Es erscheint mir alles, was es gibt, alles, dessen ich mich entsinne, 
alles, was meine verworrensten Gedanken berühren, etwas zu sein. 
Auch die eigene Schwere, die sonstige Dumpfheit meines
 Hirnes erscheint mir als etwas; ich fühle ein entzückendes, 
schlechthin unendliches Widerspiel in mir und um mich, 
und es gibt unter den gegeneinander spielenden Materien keine,
 in die ich nicht hinüberzufließen vermöchte.
Es ist mir dann, als bestünde mein Körper aus lauter Chiffern,
 die mir alles aufschließen. Oder als könnten wir in ein neues, 
ahnungsvolles Verhältnis zum ganzen Dasein treten, wenn wir anfingen, 
mit dem Herzen zu denken. Fällt aber diese sonderbare
 Bezauberung von mir ab, so weiß ich nichts darüber auszusagen; 
ich könnte dann ebensowenig in vernünftigen Worten darstellen, 
worin diese mich und die ganze Welt durchwebende Harmonie 
bestanden und wie sie sich mir fühlbar gemacht habe, als ich ein
Genaueres über die inneren Bewegungen meiner Eingeweide 
oder die Stauungen meines Blutes anzugeben vermöchte.
Von diesen sonderbaren Zufällen abgesehen, von denen ich 
übrigens kaum weiß, ob ich sie dem Geist oder dem Körper 
zurechnen soll, lebe ich ein Leben von kaum glaublicher innerer 
Leere und habe Mühe, die Starre meines Innern vor meiner Frau 
und vor meinen Leuten die Gleichgültigkeit zu verbergen, welche
 mir die Angelegenheiten des Besitzes einflößen. Die gute und strenge
 Erziehung, welche ich meinem seligen Vater verdanke, 
und die frühzeitige Gewöhnung, keine Stunde des Tages 
unausgefüllt zu lassen, sind es, scheint mir, allein, welche 
meinem Leben nach außen hin einen genügenden Halt 
und den meinem Stande und meiner Person angemessenen 
Anschein bewahren.
Ich baue einen Flügel meines Hauses um und bringe es zustande, 
mich mit dem Architekten hie und da über die Fortschritte seiner
 Arbeit zu unterhalten; ich bewirtschafte meine Güter, und meine
 Pächter und Beamten werden mich wohl etwas wortkarger, 
aber nicht ungütiger als früher finden. Keiner von ihnen, 
der mit abgezogener Mütze vor seiner Haustür steht, 
wenn ich abends vorüberreite, wird eine Ahnung haben, 
daß mein Blick, den er respektvoll aufzufangen gewohnt ist, 
mit stiller Sehnsucht über die morschen Bretter hinstreicht, 
unter denen er nach Regenwürmern zum Angeln zu suchen pflegt, 
durchs enge vergitterte Fenster in die dumpfe Stube taucht, 
wo in der Ecke das niedrige Bett mit bunten Laken
 immer auf einen zu warten scheint, der sterben will, 
oder auf einen, der geboren werden soll; daß mein Auge lange 
an den häßlichen jungen Hunden hängt oder an der Katze, 
die geschmeidig zwischen Blumenscherben durchkriecht, 
und daß es unter allen den ärmlichen und plumpen 
Gegenständen einer bäurischen Lebensweise nach jenem 
einen sucht, dessen unscheinbare Form, dessen von niemand 
beachtetes Daliegen oder -lehnen, dessen stumme Wesenheit 
zur Quelle jenes rätselhaften, wortlosen, schrankenlosen 
Entzückens werden kann.
Denn mein unbenanntes seliges Gefühl wird eher aus einem
 fernen einsamen Hirtenfeuer mir hervorbrechen als aus dem 
Anblick des gestirnten Himmels; eher aus dem Zirpen einer letzten,
 dem Tode nahen Grille, wenn schon der Herbstwind winterliche Wolken 
über die öden Felder hintreibt, als aus dem majestätischen Dröhnen 
der Orgel. Und ich vergleiche mich manchmal 
in Gedanken mit jenem Crassus, dem Redner, 
von dem berichtet wird, daß er eine zahme Muräne, 
einen dumpfen, rotäugigen, stummen Fisch seines Zierteiches, 
o über alle Maßen lieb gewann, daß es zum Stadtgespräch wurde; 
und als ihm einmal im Senat Domitius vorwarf, 
er habe über den Tod dieses Fisches Tränen vergossen, 
und ihn dadurch als einen halben Narren hinstellen wollte, 
gab ihm Crassus zur Antwort: 
»So habe ich beim Tod meines Fisches getan, 
was Ihr weder bei Eurer ersten noch Eurer zweiten 
Frau Tod getan habt.«
Ich weiß nicht wie oft mir dieser Crassus mit seiner Muräne 
als ein Spiegelbild meiner Selbst, über den Abgrund der Jahrhunderte
 hergeworfen, in den Sinn kommt. Nicht aber wegen dieser Antwort,
 die er dem Domitius gab. Die Antwort brachte die Lacher auf seine Seite, 
so daß die Sache in einen Witz aufgelöst war. Mir aber geht die 
Sache nahe,  die Sache, welche dieselbe geblieben wäre, 
auch wenn Domitius  um seine Frauen blutige Tränen 
des aufrichtigsten Schmerzes  geweint hätte. 
Dann stünde ihm noch immer Crassus gegenüber,
 mit seinen Tränen um die Muräne.
Und über diese Figur, deren Lächerlichkeit und Verächtlichkeit 
mitten in einem die erhabensten Dinge beratenden, 
weltbeherrschenden Senat so ganz ins Auge springt, 
über diese Figur zwingt mich ein unnennbares Etwas, 
in einer Weise zu denken, die mir vollkommen töricht erscheint, 
im Augenblick, wo ich versuche, sie in Worten auszudrücken.
Das Bild dieses Crassus ist zuweilen nachts in meinem Hirn, 
wie ein eingeschlagener Nagel, um den herum alles schwärt, 
pulst und kocht. Es ist mir dann, als geriete ich selber in Gärung, 
würfe Blasen auf, wallte und funkelte. 
Und das Ganze ist eine Art fieberisches Denken, 
aber Denken in einem Material, das unmittelbarer,
 flüssiger, glühender ist als Worte. Es sind gleichfalls Wirbel,
 aber solche, die nicht wie die Worte der Sprache ins Bodenlose 
zu führen scheinen, sondern irgendwie in mich selber, 
und in den tiefsten Schoß des Friedens.
Ich habe Sie, mein verehrter Freund, mit dieser ausgebreiteten
 Schilderung eines unerklärlichen Zustandes, der gewöhnlich in 
mir verschlossen bleibt, über Gebühr belästigt.
Sie waren so gütig, Ihre Unzufriedenheit darüber zu äußern, 
daß kein von mir verfaßtes Buch mehr zu Ihnen kommt, 
»Sie für das Entbehren meines Umgangs zu entschädigen«. 
Ich fühlte in diesem Augenblick mit einer Bestimmtheit, 
die nicht ganz ohne ein schmerzliches Beigefühl war,
daß ich auch im kommenden und im folgenden 
und in allen Jahren dieses meines Lebens kein englisches 
und kein lateinisches Buch schreiben werde: 
und dies aus dem einen Grund, dessen mir peinliche Seltsamkeit 
mit ungeblendetem Blick dem vor Ihnen harmonisch 
ausgebreiteten  Reiche der geistigen und leiblichen Erscheinungen 
an seiner Stelle einzuordnen ich Ihrer unendlichen geistigen 
Überlegenheit überlasse: nämlich weil die Sprache,
 in welcher nicht nur zu schreiben, sondern auch 
zu denken mir vielleicht gegeben wäre, 
weder die lateinische noch die englische, 
noch die italienische oder spanische ist, sondern eine Sprache, 
in welcher die stummen Dinge zuweilen zu mir sprechen, 
und in welcher ich vielleicht einst im Grabe vor einem 
unbekannten Richter mich verantworten werde.
Ich wollte, es wäre mir gegeben, in die letzten Worte 
dieses voraussichtlich letzten Briefes, den ich an Francis Bacon 
schreibe,  alle die Liebe und Dankbarkeit, alle die ungemessene 
Bewunderung  zusammenzupressen, die ich für den größten 
Wohltäter meines Geistes,  für den ersten Engländer meiner Zeit 
im Herzen hege 
und darin hegen werde, bis der Tod es bersten macht.

A.D. 1603, diesen 22ten August

Phi. Chandos

About the headline (FAQ)

Confirmed with Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Prosa II, Hg. v. Herbert Steiner. Frankfurt: S. Fischer, 1976, p.7-20


Text Authorship:

  • by Hugo Hofmann, Edler von Hofmannsthal (1874 - 1929), "Ein Brief", subtitle: "Brief des Lord Chandos an Francis Bacon", In der Zeitung »Der Tag«, first published 1902  [author's text checked 1 time against a primary source]

Musical settings (art songs, Lieder, mélodies, (etc.), choral pieces, and other vocal works set to this text), listed by composer (not necessarily exhaustive):

  • by Thierry Pécou (b. 1965), "Sonderbare Bezauberung", published 2017 [ mixed chorus and piano ], Mainz : Schott [sung text not yet checked]

Researcher for this page: Joost van der Linden [Guest Editor]

This text was added to the website: 2023-05-16
Line count: 496
Word count: 3838

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