Und bin ich es, der den Elegien die richtige Erklärung geben darf? Sie reichen unendlich über mich hinaus. Ich halte sie für eine weitere Ausgestaltung jener wesentlichen Voraussetzungen, die schon im „Stundenbuch“ gegeben waren, die sich, in den beiden Teilen der „Neuen Gedichte“, des Welt-Bilds spielend und versuchend bedienen und die dann im Malte, konflikthaft zusammengezogen, ins Leben zurückschlagen und dort beinah zum Beweis führen, daß dieses so ins Bodenlose gehängte Leben unmöglich sei. In den „Elegien“ wird, aus den gleichen Gegebenheiten heraus, das Leben wieder möglich, ja es erfährt hier diejenige endgültige Bejahung, zu der es der junge Malte, obwohl auf dem richtigen schweren Wege „des longues études“, noch nicht führen konnte. Lebens- und Todesbejahung erweist sich als Eines in den „Elegien“. Das eine zuzugeben ohne das andere, sei, so wird hier erfahren und gefeiert, eine schließlich alles Unendliche ausschließende Einschränkung. Der Tod ist die uns abgekehrte, von uns unbeschienene Seite des Lebens: wir müssen versuchen, das größeste Bewußtsein unseres Daseins zu leisten, das in beiden unabgegrenzten Bereichen zu Hause ist, aus beiden unerschöpflich genährt... Die wahre Lebensgestalt reicht durch beide Gebiete, das Blut des größesten Kreislaufs treibt durch beide: es gibt weder ein Diesseits noch Jenseits, sondern die große Einheit, in der die uns übertreffenden Wesen, die „Engel“, zu Hause sind. Und nun die Lage des Liebes-Problems in dieser so, um ihre größere Hälfte erweiterten, in dieser nun erst ganzen, nun erst heilen Welt. Es nimmt mich wunder, daß Ihnen die „Sonette an Orpheus“, die mindestens ebenso „schwer“ sind, von der gleichen Essenz erfüllt, nicht hilfreicher sind zum Verständnis der „Elegien“. Diese sind 1912 (auf Duino) begonnen, in Spanien und Paris—fragmentarisch — fortgeführt bis 1914; der Krieg unterbrach diese meine größeste Arbeit vollständig; als ich 1922 (hier), diese wieder aufzunehmen wagte, kamen den neuen Elegien und ihrem Abschluß die, in wenigen Tagen, stürmisch sich auferlegenden „Sonette an Orpheus“ (die nicht in meinem Plane waren) zuvor. Sie sind, wie das anders nicht sein kann, aus derselben „Geburt“ wie die „Elegien“, und daß sie plötzlich, ohne meinen Willen, im Anschluß an ein frühverstorbenes Mädchen, aufkamen, rückt sie noch mehr an die Quelle ihres Ursprungs; dieser Anschluß ist ein Bezug mehr nach der Mitte jenes Reiches hin, dessen Tiefe und Einfluß wir, überall unabgegrenzt, mit den Toten und den Künftigen teilen. Wir, diese Hiesigen und Heutigen, sind nicht einen Augenblick in der Zeitwelt befriedigt, noch in sie gebunden; wir gehen immerfort über und über zu den Früheren, zu unserer Herkunft und zu denen, die scheinbar nach uns kommen. In jener größesten „offenen“ Welt sind alle, man kann nicht sagen „gleichzeitig“, denn eben der Fortfall der Zeit bedingt, daß sie alle sind. Die Vergänglichkeit stürzt überall in ein tiefes Sein. Und so sind alle Gestaltungen des Hiesigen nicht nur zeitbegrenzt zu gebrauchen, sondern, soweit wirs vermögen, in jene überlegenen Bedeutungen einzustellen, an denen wir Teil haben. Aber nicht im christlichen Sinne (von dem ich mich immer leidenschaftlicher entferne), sondern, in einem rein irdischen, tief irdischen, selig irdischen Bewußtsein gilt es, das hier Geschaute und Berührte in den weiteren, den weitesten Umkreis einzuführen. Nicht in ein Jenseits, dessen Schatten die Erde verfinstert, sondern in ein Ganzes, in das Ganze. Die Natur, die Dinge unseres Umgangs und Gebrauchs, sind Vorläufigkeiten und Hinfälligkeiten; aber sie sind, solang wir hier sind, unser Besitz und unsere Freundschaft, Mitwisser unserer Not und Froheit, wie sie schon die Vertrauten unserer Vorfahren gewesen sind. So gilt es, alles Hiesige nicht nur nicht schlecht zu machen und herabzusetzen, sondern gerade, um seiner Vorläufigkeit willen, die es mit uns teilt, sollen diese Erscheinungen und Dinge von uns in einem innigsten Verstande begriffen und verwandelt werden. Verwandelt? Ja, denn unsere Aufgabe ist es, diese vorläufige, hinfällige Erde uns so tief, so leidend und leidenschaftlich einzuprägen, daß ihr Wesen in uns „unsichtbar“ wieder aufersteht. Wir sind die Bienen des Unsichtbaren. Nous butinons éperdument le miel du visible, pour l'accumuler dans la grande ruche d'or de l'Invisible. Die „Elegien“ zeigen uns an diesem Werke, am Werke dieser fortwährenden Umsetzungen des geliebten Sichtbaren und Greifbaren in die unsichtbare Schwingung und Erregtheit unserer Natur, die neue Schwingungszahlen einführt in die Schwingungs-Sphären des Universums. (Da die verschiedenen Stoffe im Weltall nur verschiedene Schwingungsexponenten sind, so bereiten wir, in dieser Weise, nicht nur Intensitäten geistiger Art vor, sondern wer weiß, neue Körper, Metalle, Sternnebel und Gestirne.) Und diese Tätigkeit wird eigentümlich gestützt und gedrängt durch das immer raschere Hinschwinden von so vielem Sichtbaren, das nicht mehr ersetzt werden wird. Noch für unsere Großeltern war ein „Haus“, ein „Brunnen“, ein ihnen vertrauter Turm, ja ihr eigenes Kleid, ihr Mantel: unendlich mehr, unendlich vertraulicher; fast jedes Ding ein Gefäß, in dem sie Menschliches vorfanden und Menschliches hinzusparten. Nun drängen, von Amerika her, leere gleichgültige Dinge herüber, Schein-Dinge, Lebens-Attrappen... Ein Haus, im amerikanischen Verstande, ein amerikanischer Apfel oder eine dortige Rebe, hat nichts gemeinsam mit dem Haus, der Frucht, der Traube, in die Hoffnung und Nachdenklichkeit unserer Vorväter eingegangen war... Die belebten, die erlebten, die uns mitwissenden Dinge gehen zur Neige und können nicht mehr ersetzt werden. Wir sind vielleicht die Letzten, die noch solche Dinge gekannt haben. Auf uns ruht die Verantwortung, nicht allein ihr Andenken zu erhalten (das wäre wenig und unzuverlässig), sondern ihren humanen und larischen Wert. („Larisch“, im Sinne der Haus-Gottheiten.) Die Erde hat keine andere Ausflucht, als unsichtbar zu werden: in uns, die wir mit einem Teil unseres Wesens am Unsichtbaren beteiligt sind, Anteilscheine (mindestens) haben an ihm, und unseren Besitz an Unsichtbarkeit mehren können während unseres Hierseins, — in uns allein kann sich diese intime und dauernde Umwandlung des Sichtbaren in Unsichtbares, vom sichtbar- und greifbar-sein nicht länger Abhängiges vollziehen, wie unser eigenes Schicksal in uns fortwährend zugleich vorhandener und unsichtbar wird. Die Elegien stellen diese Norm des Daseins auf: sie versichern, sie feiern dieses Bewußtsein. Sie stellen es vorsichtig in seine Traditionen ein, indem sie uralte Überlieferungen und die Gerüchte von Überlieferungen für diese Vermutung in Anspruch nehmen und selbst im ägyptischen Totenkult ein Vorwissen solcher Bezüge heraufrufen. (Obwohl das „Klageland“, durch das die ältere „Klage“ den jungen Toten führt, nicht Ägypten gleichzusetzen ist, sondern nur, gewissermaßen, eine Spiegelung des Nillandes in die Wüstenklarheit des Toten-Bewußtseins.) Wenn man den Fehler begeht, katholische Begriffe des Todes, des Jenseits und der Ewigkeit an die Elegien oder Sonette zu halten, so entfernt man sich völlig von ihrem Ausgang und bereitet sich ein immer gründlicheres Mißverstehen vor. Der „Engel“ der Elegien hat nichts mit dem Engel des christlichen Himmels zu tun (eher mit den Engelgestalten des Islam)... Der Engel der Elegien ist dasjenige Geschöpf, in dem die Verwandlung des Sichtbaren in Unsichtbares, die wir leisten, schon vollzogen erscheint. Für den Engel der Elegien sind alle vergangenen Türme und Paläste existent, weil längst unsichtbar, und die noch bestehenden Türme und Brücken unseres Daseins schon unsichtbar, obwohl noch (für uns) körperhaft dauernd. Der Engel der Elegien ist dasjenige Wesen, das dafür einsteht, im Unsichtbaren einen höheren Rang der Realität zu erkennen. — Daher „schrecklich“ für uns, weil wir, seine Liebenden und Verwandler, doch noch am Sichtbaren hängen. — Alle Welten des Universums stürzen sich ins Unsichtbare, als in ihre nächst-tiefere Wirklichkeit; einige Sterne steigern sich unmittelbar und vergehen im unendlichen Bewußtsein der Engel —, andere sind auf langsam und mühsam sie verwandelnde Wesen angewiesen, in deren Schrecken und Entzücken sie ihre nächste unsichtbare Verwirklichung erreichen. Wir sind, noch einmal sei's betont, im Sinne der Elegien, sind wir diese Verwandler der Erde, unser ganzes Dasein, die Flüge und Stürze unserer Liebe, alles befähigt uns zu dieser Aufgabe (neben der keine andere, wesentlich, besteht). (Die Sonette zeigen Einzelheiten aus dieser Tätigkeit, die hier unter den Namen und Schutz eines verstorbenen Mädchens gestellt erscheint, deren Unvollendung und Unschuld die Grabtür offen hält, so daß sie, hingegangen, zu jenen Mächten gehört, die die Hälfte des Lebens frisch erhalten und offen nach der anderen wundoffenen Hälfte zu.) Elegien und Sonette unterstützen einander beständig—, und ich sehe eine unendliche Gnade darin, daß ich, mit dem gleichen Atem, diese beiden Segel füllen durfte: das kleine rostfarbene Segel der Sonette und der Elegien riesiges weißes Segel-Tuch. Möchten Sie, lieber Freund, hier einigen Rat und Aufschluß erkennen und, im Übrigen, sich selber weiterhelfen. Denn: Ich weiß nicht, ob ich je mehr sagen könnte.
Verwandlungen
Song Cycle by John van Buren (b. 1952)
1. Die Bienen des Unsichtbaren  [sung text not yet checked]
Text Authorship:
- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), "Brief an Witold von Hulewicz, 13.XI.25"
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Researcher for this page: Joost van der Linden [Guest Editor]2. Haus, Brücke, Brunnen, Tor, Krug  [sung text not yet checked]
Warum, wenn es angeht, also die Frist des Daseins hinzubringen, als Lorbeer, ein wenig dunkler als alles andere Grün, mit kleinen Wellen an jedem Blattrand (wie eines Windes Lächeln) -: warum dann Menschliches müssen - und, Schicksal vermeidend, sich sehnen nach Schicksal?... Oh, nicht, weil Glück ist, dieser voreilige Vorteil eines nahen Verlusts. Nicht aus Neugier, oder zur Übung des Herzens, das auch im Lorbeer wäre..... Aber weil Hiersein viel ist, und weil uns scheinbar alles das Hiesige braucht, dieses Schwindende, das seltsam uns angeht. Uns, die Schwindendsten. Ein Mal jedes, nur ein Mal. Ein Mal und nicht mehr. Und wir auch ein Mal. Nie wieder. Aber dieses ein Mal gewesen zu sein, wenn auch nur ein Mal: irdisch gewesen zu sein, scheint nicht widerrufbar. Und so drängen wir uns und wollen es leisten, wollens enthalten in unsern einfachen Händen, im überfüllteren Blick und im sprachlosen Herzen. Wollen es werden. - Wem es geben? Am liebsten alles behalten für immer... Ach, in den andern Bezug, wehe, was nimmt man hinüber? Nicht das Anschaun, das hier langsam erlernte, und kein hier Ereignetes. Keins. Also die Schmerzen. Also vor allem das Schwersein, also der Liebe lange Erfahrung, - also lauter Unsägliches. Aber später, unter den Sternen, was solls: die sind besser unsäglich. Bringt doch der Wanderer auch vom Hange des Bergrands nicht eine Hand voll Erde ins Tal, die Allen unsägliche, sondern ein erworbenes Wort, reines, den gelben und blaun Enzian. Sind wir vielleicht hier, um zu sagen: Haus, Brücke, Brunnen, Tor, Krug, Obstbaum, Fenster, - höchstens: Säule, Turm.... aber zu sagen, verstehs, oh zu sagen so, wie selber die Dinge niemals innig meinten zu sein. Ist nicht die heimliche List dieser verschwiegenen Erde, wenn sie die Liebenden drängt, daß sich in ihrem Gefühl jedes und jedes entzückst? Schwelle: was ists für zwei Liebende, daß sie die eigne ältere Schwelle der Tür ein wenig verbrauchen, auch sie, nach den vielen vorher und vor den Künftigen ...., leicht. Hier ist des Säglichen Zeit, hier seine Heimat. Sprich und bekenn. Mehr als je fallen die Dinge dahin, die erlebbaren, denn, was sie verdrängend ersetzt, ist ein Tun ohne Bild. Tun unter Krusten, die willig zerspringen, sobald innen das Handeln entwächst und sich anders begrenzt. Zwischen den Hämmern besteht unser Herz, wie die Zunge zwischen den Zähnen, die doch, dennoch, die preisende bleibt. Preise dem Engel die Welt, nicht die unsägliche, ihm kannst du nicht großtun mit herrlich Erfühltem; im Weltall, wo er fühlender fühlt, bist du ein Neuling. Drum zeig ihm das Einfache, das, von Geschlecht zu Geschlechtern gestaltet, als ein Unsriges lebt, neben der Hand und im Blick. Sag ihm die Dinge. Er wird staunender stehn; wie du standest bei dem Seiler in Rom, oder beim Töpfer am Nil. Zeig ihm, wie glücklich ein Ding sein kann, wie schuldlos und unser, wie selbst das klagende Leid rein zur Gestalt sich entschließt, dient als ein Ding, oder stirbt in ein Ding -, und jenseits selig der Geige entgeht. - Und diese, von Hingang lebenden Dinge verstehn, daß du sie rühmst; vergänglich, traun sie ein Rettendes uns, den Vergänglichsten, zu. Wollen, wir sollen sie ganz im unsichtbarn Herzen verwandeln in - o unendlich - in uns! Wer wir am Ende auch seien. Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar in uns erstehn? - Ist es dein Traum nicht, einmal unsichtbar zu sein? - Erde! unsichtbar! Was, wenn Verwandlung nicht, ist dein drängender Auftrag Erde, du liebe, ich will. Oh glaub, es bedürfte nicht deiner Frühlinge mehr, mich dir zu gewinnen -, einer, ach, ein einziger ist schon dem Blute zu viel. Namenlos bin ich zu dir entschlossen, von weit her. Immer warst du im Recht, und dein heiliger Einfall ist der vertrauliche Tod. Siehe, ich lebe. Woraus? Weder Kindheit noch Zukunft werden weniger ....... Überzähliges Dasein entspringt mir im Herzen.
Text Authorship:
- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), "Die neunte Elegie", appears in Duineser Elegien, no. 9
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