Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich. Und so verhalt ich mich denn und verschlucke den Lockruf dunkelen Schluchzens. Ach, wen vermögen wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht, und die findigen Tiere merken es schon, daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus sind in der gedeuteten Welt. Es bleibt uns vielleicht irgend ein Baum an dem Abhang, daß wir ihn täglich wiedersähen; es bleibt uns die Straße von gestern und das verzogene Treusein einer Gewohnheit, der es bei uns gefiel, und so blieb sie und ging nicht. O und die Nacht, die Nacht, wenn der Wind voller Weltraum uns am Angesicht zehrt –, wem bliebe sie nicht, die ersehnte, sanft enttäuschende, welche dem einzelnen Herzen mühsam bevorsteht. Ist sie den Liebenden leichter? Ach, sie verdecken sich nur mit einander ihr Los. Weißt du's noch nicht? Wirf aus den Armen die Leere zu den Räumen hinzu, die wir atmen; vielleicht daß die Vögel die erweiterte Luft fühlen mit innigerm Flug. Ja, die Frühlinge brauchten dich wohl. Es muteten manche Sterne dir zu, daß du sie spürtest. Es hob sich eine Woge heran im Vergangenen, oder da du vorüberkamst am geöffneten Fenster, gab eine Geige sich hin. Das alles war Auftrag. Aber bewältigtest du's? Warst du nicht immer noch von Erwartung zerstreut, als kündigte alles eine Geliebte dir an? (Wo willst du sie bergen, da doch die großen fremden Gedanken bei dir aus und ein gehn und öfters bleiben bei Nacht.) Sehnt es dich aber, so singe die Liebenden; lange noch nicht unsterblich genug ist ihr berühmtes Gefühl. Jene, du neidest sie fast, Verlassenen, die du so viel liebender fandst als die Gestillten. Beginn immer von neuem die nie zu erreichende Preisung; denk: es erhält sich der Held, selbst der Untergang war ihm nur ein Vorwand, zu sein: seine letzte Geburt. Aber die Liebenden nimmt die erschöpfte Natur in sich zurück, als wären nicht zweimal die Kräfte, dieses zu leisten. Hast du der Gaspara Stampa denn genügend gedacht, daß irgend ein Mädchen, dem der Geliebte entging, am gesteigerten Beispiel dieser Liebenden fühlt: daß ich würde wie sie? Sollen nicht endlich uns diese ältesten Schmerzen fruchtbarer werden? Ist es nicht Zeit, daß wir liebend uns vom Geliebten befrein und es bebend bestehn: wie der Pfeil die Sehne besteht, um gesammelt im Absprung mehr zu sein als er selbst. Denn Bleiben ist nirgends. Stimmen, Stimmen. Höre, mein Herz, wie sonst nur Heilige hörten: daß sie der riesige Ruf aufhob vom Boden; sie aber knieten, Unmögliche, weiter und achtetens nicht: So waren sie hörend. Nicht, daß du Gottes ertrügest die Stimme, bei weitem. Aber das Wehende höre, die ununterbrochene Nachricht, die aus Stille sich bildet. Es rauscht jetzt von jenen jungen Toten zu dir. Wo immer du eintratst, redete nicht in Kirchen zu Rom und Neapel ruhig ihr Schicksal dich an? Oder es trug eine Inschrift sich erhaben dir auf, wie neulich die Tafel in Santa Maria Formosa. Was sie mir wollen? leise soll ich des Unrechts Anschein abtun, der ihrer Geister reine Bewegung manchmal ein wenig behindert. Freilich ist es seltsam, die Erde nicht mehr zu bewohnen, kaum erlernte Gebräuche nicht mehr zu üben, Rosen, und andern eigens versprechenden Dingen nicht die Bedeutung menschlicher Zukunft zu geben; das, was man war in unendlich ängstlichen Händen, nicht mehr zu sein, und selbst den eigenen Namen wegzulassen wie ein zerbrochenes Spielzeug. Seltsam, die Wünsche nicht weiter zu wünschen. Seltsam, alles, was sich bezog, so lose im Raume flattern zu sehen. Und das Totsein ist mühsam und voller Nachholn, daß man allmählich ein wenig Ewigkeit spürt. – Aber Lebendige machen alle den Fehler, daß sie zu stark unterscheiden. Engel (sagt man) wüßten oft nicht, ob sie unter Lebenden gehn oder Toten. Die ewige Strömung reißt durch beide Bereiche alle Alter immer mit sich und übertönt sie in beiden. Schließlich brauchen sie uns nicht mehr, die Früheentrückten, man entwöhnt sich des Irdischen sanft, wie man den Brüsten milde der Mutter entwächst. Aber wir, die so große Geheimnisse brauchen, denen aus Trauer so oft seliger Fortschritt entspringt –: könnten wir sein ohne sie? Ist die Sage umsonst, daß einst in der Klage um Linos wagende erste Musik dürre Erstarrung durchdrang; daß erst im erschrockenen Raum, dem ein beinah göttlicher Jüngling plötzlich für immer enttrat, das Leere in jene Schwingung geriet, die uns jetzt hinreißt und tröstet und hilft.
Rilke-Madrigals
Song Cycle by Bernd Franke (b. 1959)
1. Die Nacht  [sung text not yet checked]
Text Authorship:
- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), "Die erste Elegie", appears in Duineser Elegien, no. 1
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Research team for this page: Emily Ezust [Administrator] , Malcolm Wren [Guest Editor] , Joost van der Linden [Guest Editor]2. Denn das Schöne  [sung text not yet checked]
Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich. Und so verhalt ich mich denn und verschlucke den Lockruf dunkelen Schluchzens. Ach, wen vermögen wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht, und die findigen Tiere merken es schon, daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus sind in der gedeuteten Welt. Es bleibt uns vielleicht irgend ein Baum an dem Abhang, daß wir ihn täglich wiedersähen; es bleibt uns die Straße von gestern und das verzogene Treusein einer Gewohnheit, der es bei uns gefiel, und so blieb sie und ging nicht. O und die Nacht, die Nacht, wenn der Wind voller Weltraum uns am Angesicht zehrt –, wem bliebe sie nicht, die ersehnte, sanft enttäuschende, welche dem einzelnen Herzen mühsam bevorsteht. Ist sie den Liebenden leichter? Ach, sie verdecken sich nur mit einander ihr Los. Weißt du's noch nicht? Wirf aus den Armen die Leere zu den Räumen hinzu, die wir atmen; vielleicht daß die Vögel die erweiterte Luft fühlen mit innigerm Flug. Ja, die Frühlinge brauchten dich wohl. Es muteten manche Sterne dir zu, daß du sie spürtest. Es hob sich eine Woge heran im Vergangenen, oder da du vorüberkamst am geöffneten Fenster, gab eine Geige sich hin. Das alles war Auftrag. Aber bewältigtest du's? Warst du nicht immer noch von Erwartung zerstreut, als kündigte alles eine Geliebte dir an? (Wo willst du sie bergen, da doch die großen fremden Gedanken bei dir aus und ein gehn und öfters bleiben bei Nacht.) Sehnt es dich aber, so singe die Liebenden; lange noch nicht unsterblich genug ist ihr berühmtes Gefühl. Jene, du neidest sie fast, Verlassenen, die du so viel liebender fandst als die Gestillten. Beginn immer von neuem die nie zu erreichende Preisung; denk: es erhält sich der Held, selbst der Untergang war ihm nur ein Vorwand, zu sein: seine letzte Geburt. Aber die Liebenden nimmt die erschöpfte Natur in sich zurück, als wären nicht zweimal die Kräfte, dieses zu leisten. Hast du der Gaspara Stampa denn genügend gedacht, daß irgend ein Mädchen, dem der Geliebte entging, am gesteigerten Beispiel dieser Liebenden fühlt: daß ich würde wie sie? Sollen nicht endlich uns diese ältesten Schmerzen fruchtbarer werden? Ist es nicht Zeit, daß wir liebend uns vom Geliebten befrein und es bebend bestehn: wie der Pfeil die Sehne besteht, um gesammelt im Absprung mehr zu sein als er selbst. Denn Bleiben ist nirgends. Stimmen, Stimmen. Höre, mein Herz, wie sonst nur Heilige hörten: daß sie der riesige Ruf aufhob vom Boden; sie aber knieten, Unmögliche, weiter und achtetens nicht: So waren sie hörend. Nicht, daß du Gottes ertrügest die Stimme, bei weitem. Aber das Wehende höre, die ununterbrochene Nachricht, die aus Stille sich bildet. Es rauscht jetzt von jenen jungen Toten zu dir. Wo immer du eintratst, redete nicht in Kirchen zu Rom und Neapel ruhig ihr Schicksal dich an? Oder es trug eine Inschrift sich erhaben dir auf, wie neulich die Tafel in Santa Maria Formosa. Was sie mir wollen? leise soll ich des Unrechts Anschein abtun, der ihrer Geister reine Bewegung manchmal ein wenig behindert. Freilich ist es seltsam, die Erde nicht mehr zu bewohnen, kaum erlernte Gebräuche nicht mehr zu üben, Rosen, und andern eigens versprechenden Dingen nicht die Bedeutung menschlicher Zukunft zu geben; das, was man war in unendlich ängstlichen Händen, nicht mehr zu sein, und selbst den eigenen Namen wegzulassen wie ein zerbrochenes Spielzeug. Seltsam, die Wünsche nicht weiter zu wünschen. Seltsam, alles, was sich bezog, so lose im Raume flattern zu sehen. Und das Totsein ist mühsam und voller Nachholn, daß man allmählich ein wenig Ewigkeit spürt. – Aber Lebendige machen alle den Fehler, daß sie zu stark unterscheiden. Engel (sagt man) wüßten oft nicht, ob sie unter Lebenden gehn oder Toten. Die ewige Strömung reißt durch beide Bereiche alle Alter immer mit sich und übertönt sie in beiden. Schließlich brauchen sie uns nicht mehr, die Früheentrückten, man entwöhnt sich des Irdischen sanft, wie man den Brüsten milde der Mutter entwächst. Aber wir, die so große Geheimnisse brauchen, denen aus Trauer so oft seliger Fortschritt entspringt –: könnten wir sein ohne sie? Ist die Sage umsonst, daß einst in der Klage um Linos wagende erste Musik dürre Erstarrung durchdrang; daß erst im erschrockenen Raum, dem ein beinah göttlicher Jüngling plötzlich für immer enttrat, das Leere in jene Schwingung geriet, die uns jetzt hinreißt und tröstet und hilft.
Text Authorship:
- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), "Die erste Elegie", appears in Duineser Elegien, no. 1
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Research team for this page: Emily Ezust [Administrator] , Malcolm Wren [Guest Editor] , Joost van der Linden [Guest Editor]3. Jeder Engel  [sung text not yet checked]
Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich. Und so verhalt ich mich denn und verschlucke den Lockruf dunkelen Schluchzens. Ach, wen vermögen wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht, und die findigen Tiere merken es schon, daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus sind in der gedeuteten Welt. Es bleibt uns vielleicht irgend ein Baum an dem Abhang, daß wir ihn täglich wiedersähen; es bleibt uns die Straße von gestern und das verzogene Treusein einer Gewohnheit, der es bei uns gefiel, und so blieb sie und ging nicht. O und die Nacht, die Nacht, wenn der Wind voller Weltraum uns am Angesicht zehrt –, wem bliebe sie nicht, die ersehnte, sanft enttäuschende, welche dem einzelnen Herzen mühsam bevorsteht. Ist sie den Liebenden leichter? Ach, sie verdecken sich nur mit einander ihr Los. Weißt du's noch nicht? Wirf aus den Armen die Leere zu den Räumen hinzu, die wir atmen; vielleicht daß die Vögel die erweiterte Luft fühlen mit innigerm Flug. Ja, die Frühlinge brauchten dich wohl. Es muteten manche Sterne dir zu, daß du sie spürtest. Es hob sich eine Woge heran im Vergangenen, oder da du vorüberkamst am geöffneten Fenster, gab eine Geige sich hin. Das alles war Auftrag. Aber bewältigtest du's? Warst du nicht immer noch von Erwartung zerstreut, als kündigte alles eine Geliebte dir an? (Wo willst du sie bergen, da doch die großen fremden Gedanken bei dir aus und ein gehn und öfters bleiben bei Nacht.) Sehnt es dich aber, so singe die Liebenden; lange noch nicht unsterblich genug ist ihr berühmtes Gefühl. Jene, du neidest sie fast, Verlassenen, die du so viel liebender fandst als die Gestillten. Beginn immer von neuem die nie zu erreichende Preisung; denk: es erhält sich der Held, selbst der Untergang war ihm nur ein Vorwand, zu sein: seine letzte Geburt. Aber die Liebenden nimmt die erschöpfte Natur in sich zurück, als wären nicht zweimal die Kräfte, dieses zu leisten. Hast du der Gaspara Stampa denn genügend gedacht, daß irgend ein Mädchen, dem der Geliebte entging, am gesteigerten Beispiel dieser Liebenden fühlt: daß ich würde wie sie? Sollen nicht endlich uns diese ältesten Schmerzen fruchtbarer werden? Ist es nicht Zeit, daß wir liebend uns vom Geliebten befrein und es bebend bestehn: wie der Pfeil die Sehne besteht, um gesammelt im Absprung mehr zu sein als er selbst. Denn Bleiben ist nirgends. Stimmen, Stimmen. Höre, mein Herz, wie sonst nur Heilige hörten: daß sie der riesige Ruf aufhob vom Boden; sie aber knieten, Unmögliche, weiter und achtetens nicht: So waren sie hörend. Nicht, daß du Gottes ertrügest die Stimme, bei weitem. Aber das Wehende höre, die ununterbrochene Nachricht, die aus Stille sich bildet. Es rauscht jetzt von jenen jungen Toten zu dir. Wo immer du eintratst, redete nicht in Kirchen zu Rom und Neapel ruhig ihr Schicksal dich an? Oder es trug eine Inschrift sich erhaben dir auf, wie neulich die Tafel in Santa Maria Formosa. Was sie mir wollen? leise soll ich des Unrechts Anschein abtun, der ihrer Geister reine Bewegung manchmal ein wenig behindert. Freilich ist es seltsam, die Erde nicht mehr zu bewohnen, kaum erlernte Gebräuche nicht mehr zu üben, Rosen, und andern eigens versprechenden Dingen nicht die Bedeutung menschlicher Zukunft zu geben; das, was man war in unendlich ängstlichen Händen, nicht mehr zu sein, und selbst den eigenen Namen wegzulassen wie ein zerbrochenes Spielzeug. Seltsam, die Wünsche nicht weiter zu wünschen. Seltsam, alles, was sich bezog, so lose im Raume flattern zu sehen. Und das Totsein ist mühsam und voller Nachholn, daß man allmählich ein wenig Ewigkeit spürt. – Aber Lebendige machen alle den Fehler, daß sie zu stark unterscheiden. Engel (sagt man) wüßten oft nicht, ob sie unter Lebenden gehn oder Toten. Die ewige Strömung reißt durch beide Bereiche alle Alter immer mit sich und übertönt sie in beiden. Schließlich brauchen sie uns nicht mehr, die Früheentrückten, man entwöhnt sich des Irdischen sanft, wie man den Brüsten milde der Mutter entwächst. Aber wir, die so große Geheimnisse brauchen, denen aus Trauer so oft seliger Fortschritt entspringt –: könnten wir sein ohne sie? Ist die Sage umsonst, daß einst in der Klage um Linos wagende erste Musik dürre Erstarrung durchdrang; daß erst im erschrockenen Raum, dem ein beinah göttlicher Jüngling plötzlich für immer enttrat, das Leere in jene Schwingung geriet, die uns jetzt hinreißt und tröstet und hilft.
Text Authorship:
- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), "Die erste Elegie", appears in Duineser Elegien, no. 1
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Research team for this page: Emily Ezust [Administrator] , Malcolm Wren [Guest Editor] , Joost van der Linden [Guest Editor]4. Einsam  [sung text not yet checked]
Daß ich dereinst, an dem Ausgang der grimmigen Einsicht, Jubel und Ruhm aufsinge zustimmenden Engeln. Daß von den klar geschlagenen Hämmern des Herzens keiner versage an weichen, zweifelnden oder reißenden Saiten. Daß mich mein strömendes Antlitz glänzender mache; daß das unscheinbare Weinen blühe. O wie werdet ihr dann, Nachte, mir lieb sein, gehärmte. Daß ich euch knieender nicht, untröstliche Schwestern, hinnahm, nicht in euer gelöstes Haar mich gelöster ergab. Wir, Vergeuder der Schmerzen. Wie wir sie absehn voraus, in die traurige Dauer, ob sie nicht enden vielleicht. Sie aber sind ja unser winterwähriges Laub, unser dunkeles Sinngrün, eine der Zeiten des heimlichen Jahre -, nicht nur Zeit -, sind Stelle, Siedelung, Lager, Boden, Wohnort. Freilich, wehe, wie fremd sind die Gassen der Leid - Stadt, wo in der falschen, aus Übertönung gemachten Stille, stark, aus der Gußform des Leeren der Ausguß prahlt: der vergoldete Lärm, das platzende Denkmal. O, wie spurlos zerträte ein Engel ihnen den Trostmarkt, den die Kirche begrenzt, ihre fertig gekaufte: reinlich und zu und enttäuscht wie ein Postamt am Sonntag. Draußen aber kräuseln sich immer die Ränder von Jahrmarkt. Schaukeln der Freiheit! Taucher und Gaukler des Eifers! Und des behübschten Glücks figürliche Schießstatt, wo es zappelt von Ziel und sich blechern benimmt, wenn ein Geschickterer trifft. Von Beifall zu Zufall taumelt er weiter; denn Buden jeglicher Neugier werben, trommeln und plärrn. Für Erwachsene aber ist noch besonders zu sehn, wie das Geld sich vermehrt, anatomisch, nicht zur Belustigung nur: der Geschlechtsteil des Gelds, alles, das Ganze, der Vorgang -, das unterrichtet und macht fruchtbar ......... .... Oh aber gleich darüber hinaus, hinter der letzten Planke, beklebt mit Plakaten des >Todlos<, jenes bitteren Biers, das den Trinkenden süß scheint, wenn sie immer dazu frische Zerstreuungen kaun...., gleich im Rücken der Planke, gleich dahinter, ists wirklich. Kinder spielen, und Liebende halten einander, - abseits, ernst, im ärmlichen Gras, und Hunde haben Natur. Weiter noch zieht es den Jüngling; vielleicht, daß er eine junge Klage liebt Hinter ihr her kommt er in Wiesen. Sie sagt: - Weit. Wir wohnen dort draußen.... Wo? Und der Jüngling folgt. Ihn rührt ihre Haltung. Die Schulter, der Hals -, vielleicht ist sie von herrlicher Herkunft. Aber er läßt sie, kehrt um, wendet sich, winkt... Was solls? Sie ist eine Klage. Nur die jungen Toten, im ersten Zustand zeitlosen Gleichmuts, dem der Entwöhnung, folgen ihr liebend. Mädchen wartet sie ab und befreundet sie. Zeigt ihnen leise, was sie an sich hat. Perlen des Leids und die feinen Schleier der Duldung. - Mit Jünglingen geht sie schweigend. Aber dort, wo sie wohnen, im Tal, der Älteren eine, der Klagen, nimmt sich des Jünglinges an, wenn er fragt; - Wir waren, sagt sie, ein Großes Geschlecht, einmal, wir Klagen. Die Väter trieben den Bergbau dort in dem großen Gebirg; bei Menschen findest du manchmal ein Stück geschliffenes Ur-Leid oder, aus altem Vulkan, schlackig versteinerten Zorn. Ja, das stammte von dort. Einst waren wir reich.- Und sie leitet ihn leicht durch die weite Landschaft der Klagen, zeigt ihm die Säulen der Tempel oder die Trümmer jener Burgen, von wo Klage-Fürsten das Land einstens weise beherrscht. Zeigt ihm die hohen Tränenbäume und Felder blühender Wehmut, (Lebendige kennen sie nur als sanftes Blattwerk); zeigt ihm die Tiere der Trauer, weidend, - und manchmal schreckt ein Vogel und zieht, flach ihnen fliegend durchs Aufschaun, weithin das schriftliche Bild seines vereinsamten Schreis. - Abends führt sie ihn hin zu den Gräbern der Alten aus dem Klage-Geschlecht, den Sibyllen und Warn-Herrn. Naht aber Nacht, so wandeln sie leiser, und bald mondets empor, das über Alles wachende Grab-Mal. Brüderlich jenem am Nil, der erhabene Sphinx -: der verschwiegenen Kammer Antlitz. Und sie staunen dem krönlichen Haupt, das für immer, schweigend, der Menschen Gesicht auf die Waage der Sterne gelegt. Nicht erfaßt es sein Blick, im Frühtod schwindelnd. Aber ihr Schaun, hinter dem Pschent-Rand hervor, scheucht es die Eule. Und sie, streifend im langsamen Abstrich die Wange entlang, jene der reifesten Rundung, zeichnet weich in das neue Totengehör, über ein doppelt aufgeschlagenes Blatt, den unbeschreiblichen Umriß. Und höher, die Sterne. Neue. Die Sterne des Leidlands. Langsam nennt sie die Klage; - Hier, siehe: den Reiter, den Stab, und das vollere Sternbild nennen sie: Fruchtkranz. Dann, weiter, dem Pol zu: Wiege; Weg; Das Brennende Buch; Puppe; Fenster. Aber im südlichen Himmel, rein wie im Innern einer gesegneten Hand, das klar erglänzende >M<, das die Mütter bedeutet ...... - Doch der Tote muß fort, und schweigend bringt ihn die ältere Klage bis an die Talschlucht, wo es schimmert im Mondschein: die Quelle der Freude. In Ehrfurcht nennt sie sie, sagt; - Bei den Menschen ist sie ein tragender Strom. - Stehn am Fuß des Gebirgs. Und da umarmt sie ihn, weinend. Einsam steigt er dahin, in die Berge des Ur-Leids. Und nicht einmal sein Schritt klingt aus dem tonlosen Los. * Aber erweckten sie uns, die unendlich Toten, ein Gleichnis, siehe, sie zeigten vielleicht auf die Kätzchen der leeren Hasel, die hängenden, oder meinten den Regen, der fallt auf dunkles Erdreich im Frühjahr. - Und wir, die an steigendes Glück denken, empfänden die Rührung, die uns beinah bestürzt, wenn ein Glückliches fällt.
Text Authorship:
- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), "Die zehnte Elegie", appears in Duineser Elegien, no. 10
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Confirmed with Rainer Maria Rilke, rilke.de/gedichte/die_zehnte_duineser_elegie.htm
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5. Steigendes Glück  [sung text not yet checked]
Daß ich dereinst, an dem Ausgang der grimmigen Einsicht, Jubel und Ruhm aufsinge zustimmenden Engeln. Daß von den klar geschlagenen Hämmern des Herzens keiner versage an weichen, zweifelnden oder reißenden Saiten. Daß mich mein strömendes Antlitz glänzender mache; daß das unscheinbare Weinen blühe. O wie werdet ihr dann, Nachte, mir lieb sein, gehärmte. Daß ich euch knieender nicht, untröstliche Schwestern, hinnahm, nicht in euer gelöstes Haar mich gelöster ergab. Wir, Vergeuder der Schmerzen. Wie wir sie absehn voraus, in die traurige Dauer, ob sie nicht enden vielleicht. Sie aber sind ja unser winterwähriges Laub, unser dunkeles Sinngrün, eine der Zeiten des heimlichen Jahre -, nicht nur Zeit -, sind Stelle, Siedelung, Lager, Boden, Wohnort. Freilich, wehe, wie fremd sind die Gassen der Leid - Stadt, wo in der falschen, aus Übertönung gemachten Stille, stark, aus der Gußform des Leeren der Ausguß prahlt: der vergoldete Lärm, das platzende Denkmal. O, wie spurlos zerträte ein Engel ihnen den Trostmarkt, den die Kirche begrenzt, ihre fertig gekaufte: reinlich und zu und enttäuscht wie ein Postamt am Sonntag. Draußen aber kräuseln sich immer die Ränder von Jahrmarkt. Schaukeln der Freiheit! Taucher und Gaukler des Eifers! Und des behübschten Glücks figürliche Schießstatt, wo es zappelt von Ziel und sich blechern benimmt, wenn ein Geschickterer trifft. Von Beifall zu Zufall taumelt er weiter; denn Buden jeglicher Neugier werben, trommeln und plärrn. Für Erwachsene aber ist noch besonders zu sehn, wie das Geld sich vermehrt, anatomisch, nicht zur Belustigung nur: der Geschlechtsteil des Gelds, alles, das Ganze, der Vorgang -, das unterrichtet und macht fruchtbar ......... .... Oh aber gleich darüber hinaus, hinter der letzten Planke, beklebt mit Plakaten des >Todlos<, jenes bitteren Biers, das den Trinkenden süß scheint, wenn sie immer dazu frische Zerstreuungen kaun...., gleich im Rücken der Planke, gleich dahinter, ists wirklich. Kinder spielen, und Liebende halten einander, - abseits, ernst, im ärmlichen Gras, und Hunde haben Natur. Weiter noch zieht es den Jüngling; vielleicht, daß er eine junge Klage liebt Hinter ihr her kommt er in Wiesen. Sie sagt: - Weit. Wir wohnen dort draußen.... Wo? Und der Jüngling folgt. Ihn rührt ihre Haltung. Die Schulter, der Hals -, vielleicht ist sie von herrlicher Herkunft. Aber er läßt sie, kehrt um, wendet sich, winkt... Was solls? Sie ist eine Klage. Nur die jungen Toten, im ersten Zustand zeitlosen Gleichmuts, dem der Entwöhnung, folgen ihr liebend. Mädchen wartet sie ab und befreundet sie. Zeigt ihnen leise, was sie an sich hat. Perlen des Leids und die feinen Schleier der Duldung. - Mit Jünglingen geht sie schweigend. Aber dort, wo sie wohnen, im Tal, der Älteren eine, der Klagen, nimmt sich des Jünglinges an, wenn er fragt; - Wir waren, sagt sie, ein Großes Geschlecht, einmal, wir Klagen. Die Väter trieben den Bergbau dort in dem großen Gebirg; bei Menschen findest du manchmal ein Stück geschliffenes Ur-Leid oder, aus altem Vulkan, schlackig versteinerten Zorn. Ja, das stammte von dort. Einst waren wir reich.- Und sie leitet ihn leicht durch die weite Landschaft der Klagen, zeigt ihm die Säulen der Tempel oder die Trümmer jener Burgen, von wo Klage-Fürsten das Land einstens weise beherrscht. Zeigt ihm die hohen Tränenbäume und Felder blühender Wehmut, (Lebendige kennen sie nur als sanftes Blattwerk); zeigt ihm die Tiere der Trauer, weidend, - und manchmal schreckt ein Vogel und zieht, flach ihnen fliegend durchs Aufschaun, weithin das schriftliche Bild seines vereinsamten Schreis. - Abends führt sie ihn hin zu den Gräbern der Alten aus dem Klage-Geschlecht, den Sibyllen und Warn-Herrn. Naht aber Nacht, so wandeln sie leiser, und bald mondets empor, das über Alles wachende Grab-Mal. Brüderlich jenem am Nil, der erhabene Sphinx -: der verschwiegenen Kammer Antlitz. Und sie staunen dem krönlichen Haupt, das für immer, schweigend, der Menschen Gesicht auf die Waage der Sterne gelegt. Nicht erfaßt es sein Blick, im Frühtod schwindelnd. Aber ihr Schaun, hinter dem Pschent-Rand hervor, scheucht es die Eule. Und sie, streifend im langsamen Abstrich die Wange entlang, jene der reifesten Rundung, zeichnet weich in das neue Totengehör, über ein doppelt aufgeschlagenes Blatt, den unbeschreiblichen Umriß. Und höher, die Sterne. Neue. Die Sterne des Leidlands. Langsam nennt sie die Klage; - Hier, siehe: den Reiter, den Stab, und das vollere Sternbild nennen sie: Fruchtkranz. Dann, weiter, dem Pol zu: Wiege; Weg; Das Brennende Buch; Puppe; Fenster. Aber im südlichen Himmel, rein wie im Innern einer gesegneten Hand, das klar erglänzende >M<, das die Mütter bedeutet ...... - Doch der Tote muß fort, und schweigend bringt ihn die ältere Klage bis an die Talschlucht, wo es schimmert im Mondschein: die Quelle der Freude. In Ehrfurcht nennt sie sie, sagt; - Bei den Menschen ist sie ein tragender Strom. - Stehn am Fuß des Gebirgs. Und da umarmt sie ihn, weinend. Einsam steigt er dahin, in die Berge des Ur-Leids. Und nicht einmal sein Schritt klingt aus dem tonlosen Los. * Aber erweckten sie uns, die unendlich Toten, ein Gleichnis, siehe, sie zeigten vielleicht auf die Kätzchen der leeren Hasel, die hängenden, oder meinten den Regen, der fallt auf dunkles Erdreich im Frühjahr. - Und wir, die an steigendes Glück denken, empfänden die Rührung, die uns beinah bestürzt, wenn ein Glückliches fällt.
Text Authorship:
- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), "Die zehnte Elegie", appears in Duineser Elegien, no. 10
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Confirmed with Rainer Maria Rilke, rilke.de/gedichte/die_zehnte_duineser_elegie.htm
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