by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)
Du bist der Arme, du der Mittellose
Language: German (Deutsch)
Du bist der Arme, du der Mittellose, du bist der Stein, der keine Stätte hat, du bist der fortgeworfene Leprose, der mit der Klapper umgeht vor der Stadt. Denn dein ist nichts, so wenig wie des Windes, und deine Blöße kaum bedeckt der Ruhm; das Alltagskleidchen eines Waisenkindes ist herrlicher und wie ein Eigentum. Du bist so arm wie eines Keimes Kraft in einem Mädchen, das es gern verbürge und sich die Lenden preßt, daß sie erwürge das erste Atmen ihrer Schwangerschaft. Und du bist arm: so wie der Frühlingsregen, der selig auf der Städte Dächer fällt, und wie ein Wunsch, wenn Sträflinge ihn hegen in einer Zelle, ewig ohne Welt. Und wie die Kranken, die sich anders legen und glücklich sind; wie Blumen in Geleisen so traurig arm im irren Wind der Reisen; und wie die Hand, in die man weint, so arm ... Und was sind Vögel gegen dich, die frieren, was ist ein Hund, der tagelang nicht fraß, und was ist gegen dich das Sichverlieren, das stille lange Traurigsein von Tieren, die man als Eingefangene vergaß? Und alle Armen in den Nachtasylen, was sind sie gegen dich und deine Not? Sie sind nur kleine Steine, keine Mühlen, aber sie mahlen doch ein wenig Brot. Du aber bist der tiefste Mittellose, der Bettler mit verborgenem Gesicht; du bist der Armut große Rose, die ewige Metamorphose des Goldes in das Sonnenlicht. Du bist der leise Heimatlose, der nicht mehr einging in die Welt: zu groß und schwer zu jeglichem Bedarfe. Du heulst im Sturm. Du bist wie eine Harfe, an welcher jeder Spielende zerschellt.
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Confirmed with Rainer Maria Rilke, Das Stundenbuch, Leipzig: Insel-Verlag, 1918, pages 94-95.
Authorship:
- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), no title, appears in Das Stundenbuch, in 3. Das Buch von der Armut und dem Tode, no. 18 [author's text checked 1 time against a primary source]
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