by Carl Friedrich Wiegand (1877 - 1942)
Das erloschene Altarbild
Language: German (Deutsch)
Ihr Sarg stand auf den roten Sandsteinfliesen Der Grabkapelle – und das Frühjahrslicht Fiel durch das Maßwerk und die schmalen Sprießen Des Kirchenfensters auf ihr Angesicht … Graf Reynalt stand und sah den Lichtschein rinnen Und maß die Bahn vom Sarg zum Himmelsblau … Dann legte er ein spinnwebfeines Linnen Aufs bleiche Antlitz der entschlafnen Frau. Drei lange Tage sank in vollen Garben Der Strahl der Sonne in den Totenschrein Und stach in überirdisch zarten Farben Das Bild der Toten in das Tuch hinein … Geheiligt, wie Johannes an dem Grabe Des Herrn erschauernd stand in Osterfrüh, So nahm der Graf das Bild als Himmelsgabe Und sank, in Andacht weinend, auf das Knie. In einem güldnen Altarschrank geborgen, Als Heiligtum und Labsal seiner Pein, Schloß er, nach stiller Messe, jeden Morgen Sein Wunderbild vor fremden Blicken ein … Nach Jahren war’s – da fiel mit lahmer Schwinge Ein wilder Schwan vor ihm aufs Rosenbeet – «Sei mein Geselle, Schwänlein,» sprach er, «bringe Mit Glück und Segen, eh mein Stamm vergeht …» Da wuchs sein Glück! Er hob das Haupt im Danke! Er trug das Sonnenlicht auf Schild und Speer! Doch ach – in seinem güldnen Altarschranke War tags darauf das weiße Linnen leer …
Confirmed with Carl Friedrich Wiegand, Niederländische Balladen, second edition, 1919.
Authorship:
- by Carl Friedrich Wiegand (1877 - 1942), "Das erloschene Altarbild", appears in Niederländische Balladen, first published 1908 [author's text checked 1 time against a primary source]
Musical settings (art songs, Lieder, mélodies, (etc.), choral pieces, and other vocal works set to this text), listed by composer (not necessarily exhaustive):
- by Henri Zagwijn (1878 - 1954), "Das erloschene Altarbild", 1909 [ mezzo-soprano and piano ] [sung text not yet checked]
Researcher for this page: Harry Joelson
This text was added to the website: 2020-10-26
Line count: 28
Word count: 204