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by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)

Sie haben mir, lieber und geehrter Herr,...
Language: German (Deutsch) 
Sie haben mir, lieber und geehrter Herr, mit Ihrem österlichen 
Briefe viel Freude gemacht; denn er sagte viel Gutes von Ihnen, 
und die Art, wie Sie über Jacobsens große und liebe Kunst sprachen, 
zeigte mir, daß ich nicht geirrt habe, als ich Ihr Leben 
und seine vielen Fragen an diese Fülle führte.
Nun wird sich Ihnen «Niels Lyhne» auftun, ein Buch der Herrlichkeiten 
und der Tiefen; je öfter man es liest: 
es scheint alles darin zu sein von des Lebens allerleisestem Dufte 
bis zu dem vollen, großen Geschmack seiner schwersten Früchte. 
Da ist nichts, was nicht verstanden, erfaßt, erfahren 
und in des Erinnerns zitterndem Nachklingen erkannt worden wäre; 
kein Erleben ist zu gering gewesen, 
und das kleinste Geschehen entfaltet sich wie ein Schicksal, 
und das Schicksal selbst ist wie ein wunderbares, weites Gewebe, 
darin jeder Faden von einer unendlich zärtlichen Hand geführt 
und neben einen anderen gelegt und von hundert anderen gehalten 
und getragen wird. Sie werden das große Glück erfahren, 
dieses Buch zum ersten Male zu lesen, 
und werden durch seine unzähligen Überraschungen gehen 
wie in einem neuen Traum. Aber ich kann Ihnen sagen, 
daß man auch später immer wieder als derselbe Staunende 
durch diese Bücher geht und daß sie nichts von der wunderbaren 
Macht verlieren und nichts von der Märchenhaftigkeit aufgeben, 
mit der sie den Lesenden das erste Mal überschütten.
Man wird nur immer genießender an ihnen, immer dankbarer, 
und irgendwie besser und einfacher im Schauen, 
tiefer im Glauben an das Leben und im Leben seliger und größer.
Und später müssen Sie das wunderbare Buch vom Schicksal 
und Sehnen der Marie Grubbe lesen und Jacobsens Briefe 
und Tagebuchblätter und Fragmente und endlich seine Verse, 
die (wenn sie auch nur mäßig übertragen sind) in unendlichem Klingen leben. 
(Dazu würde ich Ihnen raten, gelegentlich die schöne 
Gesamtausgabe von Jacobsens Werken die alles das enthält zu kaufen. 
Sie erschien in drei Bänden und gut übertragen bei Eugen Diederichs 
in Leipzig und kostet, soviel ich glaube, nur fünf oder sechs Mark pro Band.)
Mit Ihrer Meinung über «Hier sollten Rosen stehen...» 
(dieses Werk von so unvergleichlicher Feinheit und Form) 
haben Sie natürlich gegen den, der die Einleitung geschrieben hat, 
ganz, ganz unantastbar recht. Und es sei hier gleich die Bitte gesagt: 
Lesen Sie möglichst wenig ästhetisch-kritische Dinge, - 
es sind entweder Parteiansichten, versteinert und sinnlos 
geworden in ihrem leblosen Verhärtetsein, oder es sind geschickte Wortspiele, 
bei denen heute diese Ansicht gewinnt und morgen die entgegengesetzte.

Kunst-Werke sind von einer unendlichen Einsamkeit 
und mit nichts so wenig erreichbar als mit Kritik. 
Nur Liebe kann sie erfassen und halten und kann gerecht sein gegen sie.

Geben Sie jedesmal sich und Ihrem Gefühl recht, 
jeder solche Auseinandersetzung, Besprechung oder Einführung gegenüber; 
sollten Sie doch unrecht haben, so wird das natürliche 
Wachstum Ihres innern Lebens Sie langsam und mit der Zeit 
zu anderen Erkenntnissen führen. Lassen Sie Ihren Urteilen die eigene stille, 
ungestörte Entwicklung, die, wie jeder Fortschritt, 
tief aus innen kommen muß und durch nichts gedrängt 
oder beschleunigt werden kann. Alles ist austragen und dann gebären. 
Jeden Eindruck und jeden Keim eines Gefühls ganz in sich, im Dunkel, 
im Unsagbaren, Unbewußten, dem eigenen Verstande 
Unerreichbaren sich vollenden lassen und mit tiefer Demut 
und Geduld die Stunde der Niederkunft einer neuen Klarheit abwarten: 
das allein heißt künstlerisch leben: im Verstehen wie im Schaffen.
Da gibt es kein Messen mit der Zeit, da gilt kein Jahr, 
und zehn Jahre sind nichts, 
Künstler sein heißt: nicht rechnen und zählen; 
reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt 
und getrost in den Stürmen des Frühlings steht ohne die Angst, 
daß dahinter kein Sommer kommen könnte. Er kommt doch. 
Aber er kommt nur zu den Geduldigen, die da sind, 
als ob die Ewigkeit vor ihnen läge, so sorglos still und weit. 
Ich lerne es täglich, lerne es unter Schmerzen, denen ich dankbar bin: 
Geduld ist alles!
Richard Dehmel: Mir geht es mit seinen Büchern 
(und nebenbei gesagt auch mit dem Menschen, den ich flüchtig kenne) so, 
daß, wenn ich eine seiner schönen Seiten gefunden habe, 
ich mich immer vor der nächsten fürchte, die alles wieder zerstören 
und das Liebenswerte in Unwürdiges verkehren kann. 
Sie haben ihn ganz gut charakterisiert mit dem Wort: 
«brünstig leben und dichten». 
Und tatsächlich liegt ja künstlerisches Erleben so unglaublich 
nahe am geschlechtlichen, an seinem Weh und seiner Lust, 
daß die beiden Erscheinungen eigentlich nur verschiedene Formen einer 
und derselben Sehnsucht und Seligkeit sind. 
Und wenn man statt Brunst Geschlecht sagen dürfte, 
Geschlecht im großen, weiten, reinen, durch keinen Kirchenirrtum 
verdächtigen Sinne, so wäre seine Kunst sehr groß und unendlich wichtig. 
Seine dichterische Kraft ist groß und wie ein Urtrieb stark, 
sie hat eigene rücksichtslose Rhythmen in sich 
und bricht wie aus Bergen aus ihm aus.
Aber es scheint, daß diese Kraft nicht immer ganz aufrichtig 
und ohne Pose ist. 
(Aber das ist ja auch eine der schwersten Prüfungen an dem Schaffenden: 
er muß immer der Unbewußte, der Ahnungslose seiner besten Tugenden bleiben, 
wenn er diesen nicht ihre Unbefangenheit und Unberührtheit nehmen will!) 
Und dann, wo sie, durch sein Wesen rauschend, zum Geschlechtlichen kommt, 
da findet sie keinen ganz so reinen Menschen, wie sie ihn brauchte. 
Da ist keine ganz reife und reine Geschlechtswelt, eine, 
die nicht menschlich genug, die nur männlich ist, Brunst ist, 
Rausch und Ruhelosigkeit, und beladen mit den alten Vorurteilen 
und Hoffarten, mit denen der Mann die Liebe entstellt und beladen hat. 
Weil er nur als Mann liebt, nicht als Mensch, 
darum ist in seiner Geschlechtsempfindung etwas Enges, scheinbar Wildes, 
Gehässiges, Zeitliches, Unewiges, das seine Kunst verringert und sie zweideutig 
und zweifelhaft macht. Sie ist nicht ohne Makel, sie ist gezeichnet von der Zeit 
und von der Leidenschaft, und wenig aus ihr wird dauern und bestehen. 
(Die meiste Kunst ist aber so!) Aber trotzdem kann man sich an dem, 
was in ihr Großes ist, tief freuen und muß nur nicht daran verloren gehen 
und Anhänger jener Dehmelschen Welt werden, die so unendlich bange, 
voll Ehebruch und Wirrnis, ist und fern von den wirklichen Schicksalen, 
die mehr leiden machen als diese zeitlichen Trübnisse, 
aber auch mehr Gelegenheit zu Größe geben und mehr Mut zur Ewigkeit. 
Was endlich meine Bücher anlangt, so möchte ich Ihnen am liebsten alle senden, 
die Sie irgend freuen könnten. Aber ich bin sehr arm, und meine Bücher gehören, 
sobald sie einmal erschienen sind, nicht mehr mir. Ich kann sie selbst nicht kaufen 
und, wie ich so oft möchte, denen geben, die ihnen Liebes erweisen würden.
Deshalb schreibe ich Ihnen auf einen Zettel die Titel 
(und Verlage) meiner jüngsterschienenen Bücher 
(der neuesten, im ganzen habe ich wohl 12 oder 13 veröffentlicht) auf 
und muß es Ihnen, lieber Herr, überlassen, 
sich gelegentlich mal etwas davon zu bestellen.
Ich weiß meine Bücher gerne bei Ihnen.

Leben Sie wohl!

Ihr:

Rainer Maria Rilke

About the headline (FAQ)

Briefe An Franz Xaver Kappus, Viareggio bei Pisa (Italien), am 23. April 1903. Excerpted in Lundquist's Geduld ist alles.


Text Authorship:

  • by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), no title, written 1903 [author's text checked 1 time against a primary source]

Musical settings (art songs, Lieder, mélodies, (etc.), choral pieces, and other vocal works set to this text), listed by composer (not necessarily exhaustive):

    [ None yet in the database ]


Researcher for this page: Joost van der Linden [Guest Editor]

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