Ich las schon lang. Seit dieser Nachmittag, mit Regen rauschend, an den Fenstern lag. Vom Winde draußen hörte ich nichts mehr: mein Buch war schwer. Ich sah ihm in die Blätter wie in Mienen, die dunkel werden von Nachdenklichkeit, und um mein Lesen staute sich die Zeit. - Auf einmal sind die Seiten überschienen, und statt der bangen Wortverworrenheit steht: Abend, Abend... überall auf ihnen. Ich schau noch nicht hinaus, und doch zerreißen die langen Zeilen, und die Worte rollen von ihren Fäden fort, wohin sie wollen... Da weiß ich es: über den übervollen glänzenden Gärten sind die Himmel weit; die Sonne hat noch einmal kommen sollen. - Und jetzt wird Sommernacht, soweit man sieht: zu wenig Gruppen stellt sich das Verstreute, dunkel, auf langen Wegen, gehn die Leute, und seltsam weit, als ob es mehr bedeute, hört man das Wenige, das noch geschieht. Und wenn ich jetzt vom Buch die Augen hebe, wird nichts befremdlich sein und alles groß. Dort draußen ist, was ich hier drinnen lebe, und hier und dort ist alles grenzenlos; nur daß ich mich noch mehr damit verwebe, wenn meine Blicke an die Dinge passen und an die ernste Einfachheit der Massen, - da wächst die Erde über sich hinaus. Den ganzen Himmel scheint sie zu umfassen: der erste Stern ist wie das letzte Haus.
Zwei Reflexionen
Song Cycle by Julia Schwartz (b. 1963)
1. Der Lesende  [sung text not yet checked]
Language: German (Deutsch)
Text Authorship:
- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), "Der Lesende", appears in Das Buch der Bilder
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Researcher for this page: Joost van der Linden [Guest Editor]2. Oft anstaunt ich dich  [sung text not yet checked]
Language: German (Deutsch)
Oft anstaunt ich dich, stand an gestern begonnenem Fenster, stand und staunte dich an. Noch war mir die neue Stadt wie verwehrt, und die unüberredete Landschaft finsterte hin, als wäre ich nicht. Nicht gaben die nächsten Dinge sich Müh, mir verständlich zu sein. An der Laterne drängte die Gasse herauf: ich sah, daß sie fremd war. Drüben - ein Zimmer, mitfühlbar, geklärt in der Lampe -, schon nahm ich teil; sie empfandens, schlossen die Läden. Stand. Und dann weinte ein Kind. Ich wußte die Mütter rings in den Häusern, was sie vermögen -, und wußte alles Weinens zugleich die untröstlichen Gründe. Oder es sang eine Stimme und reichte ein Stück weit aus der Erwartung heraus, oder es hustete unten voller Vorwurf ein Alter, als ob sein Körper im Recht sei wider die mildere Welt. Dann schlug eine Stunde -, aber ich zählte zu spät, sie fiel mir vorüber. - Wie ein Knabe, ein fremder, wenn man endlich ihn zuläßt, doch den Ball nicht fängt und keines der Spiele kann, die die andern so leicht an einander betreiben, dasteht und wegschaut, - wohin - ?: stand ich plötzlich, daß du umgehst mit mir, spielest, begriff ich, erwachsene Nacht, und staunte dich an. Wo die Türme zürnten, wo abgewendeten Schicksals eine Stadt mich umstand und nicht zu erratende Berge wider mich lagen, und im genäherten Umkreis hungernde Fremdheit umzog das zufällige Flackern meiner Gefühle -: da war es, du Hohe, keine Schande für dich, daß du mich kanntest. Dein Atem ging über mich. Dein auf weite Ernste verteiltes Lächeln trat in mich ein.
Text Authorship:
- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), "Die große Nacht", written 1914, appears in Die Gedichte 1910-1922
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