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by Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844 - 1900)

Vom neuen Götzen
Language: German (Deutsch) 
[Irgendwo]1 gibt es noch Völker und Herden, doch nicht bei uns,
  meine Brüder: da gibt es Staaten.
Staat? Was ist das? Wohlan! Jetzt tut mir die Ohren auf, 
  denn jetzt sage ich euch mein Wort vom Tode der Völker.
Staat heißt das kälteste aller kalten Ungeheuer. 
  Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde:
  »Ich, der Staat, bin das Volk.«
Lüge ist's! Schaffende waren es, die schufen die Völker
  und hängten einen Glauben und eine Liebe über sie hin:
  also dienten sie dem Leben.
Vernichter sind es, die stellen Fallen auf für viele
  und heißen sie Staat: sie hängen ein Schwert
  und hundert Begierden über sie hin.
Wo es noch Volk gibt, da versteht es den Staat nicht
  und haßt ihn als bösen Blick und Sünde an Sitten und Rechten.
Dieses Zeichen gebe ich euch: jedes Volk spricht
  seine Zunge des Guten und Bösen: die versteht der Nachbar nicht.
  Seine Sprache erfand es sich in Sitten und Rechten.
Aber der Staat lügt in allen Zungen der Guten und Bösen;
  und was er auch redet, er lügt – und was er auch hat, gestohlen hat er's.
Falsch ist alles an ihm; mit gestohlenen Zähnen beißt er,
  der Bissige. Falsch sind selbst seine Eingeweide.
Sprachverwirrung des Guten und Bösen: dieses Zeichen 
  gebe ich euch als Zeichen des Staates. Wahrlich, den Willen 
  zum Tode deutet dieses Zeichen! Wahrlich, es winkt den Predigern des Todes!
Viel zu viele werden geboren: für die Überflüssigen ward der Staat erfunden!
Seht mir doch, wie er sie an sich lockt, die Viel-zu-Vielen!
  Wie er sie schlingt und kaut und wiederkäut!
»Auf der Erde ist nichts Größeres als ich: der ordnende Finger 
  bin ich Gottes« – also brüllt das Untier. Und nicht nur Langgeohrte
  und Kurzgeäugte sinken auf die Knie!2
Ach, auch in euch, ihr großen Seelen, raunt er seine düsteren Lügen!
  Ach, er errät die reichen Herzen, die gerne sich verschwenden!2
Ja, auch euch errät er, ihr Besieger des alten Gottes!
  Müde wurdet ihr im Kampfe, und nun dient eure Müdigkeit noch dem neuen Götzen!
Helden und Ehrenhafte möchte er um sich aufstellen,
  der neue Götze! Gerne sonnt er sich im Sonnenschein guter Gewissen – 
  das kalte Untier!
Alles will er euch geben, wenn ihr ihn anbetet, der neue Götze:
  also kauft er sich den Glanz eurer Tugenden und den Blick eurer stolzen Augen.
Ködern will er mit euch die Viel-zu Vielen! Ja,
  ein Höllenkunststück ward da erfunden, ein Pferd des Todes,
  klirrend im Putz göttlicher Ehren!
Ja, ein Sterben für viele ward da erfunden, das sich selber
  als Leben preist: wahrlich, ein Herzensdienst allen Predigern des Todes!
Staat nenne ich's, wo alle Gifttrinker sind, Gute und Schlimme:
  Staat, wo alle sich selber verlieren, Gute und Schlimme:
  Staat, wo der langsame Selbstmord aller – »das Leben« heißt.
Seht mir doch diese Überflüssigen! Sie stehlen sich die Werke
  der Erfinder und die Schätze der Weisen: Bildung nennen sie
  ihren Diebstahl – und alles wird ihnen zu Krankheit und Ungemach!
Seht mir doch diese Überflüssigen! Krank sind sie immer,
  sie erbrechen ihre Galle und nennen es Zeitung. Sie verschlingen einander
  und können sich nicht einmal verdauen.
Seht mir doch diese Überflüssigen! Reichtümer erwerben sie und werden ärmer damit.
  Macht wollen sie und zuerst das Brecheisen der Macht, viel Geld – diese Unvermögenden!
Seht sie klettern, diese geschwinden Affen! Sie klettern übereinander
  hinweg und zerren sich also in den Schlamm und die Tiefe.
Hin zum Throne wollen sie alle: ihr Wahnsinn ist es –
  als ob das Glück auf dem Throne säße! Oft sitzt der Schlamm auf dem Thron -
  und oft auch der Thron auf dem Schlamme.
Wahnsinnige sind sie mir alle und kletternde Affen und Überheiße.
  Übel riecht mir ihr Götze, das kalte Untier:
  übel riechen sie mir alle zusammen, diese Götzendiener.
Meine Brüder, wollt ihr denn ersticken im Dunste ihrer Mäuler
  und Begierden? Lieber zerbrecht doch die Fenster und springt ins Freie!
Geht doch dem schlechten Geruche aus dem Wege! 
  Geht fort von der Götzendienerei der Überflüssigen!
Geht doch dem schlechten Geruche aus dem Wege!
  Geht fort von dem Dampfe dieser Menschenopfer!
Frei steht großen Seelen auch jetzt noch die Erde.
  Leer sind noch viele Sitze für Einsame und Zweisame,
  um die der Geruch stiller Meere weht.
Frei steht noch großen Seelen ein freies Leben.
  Wahrlich, wer wenig besitzt, wird um so weniger besessen:
  gelobt sei die kleine Armut!
Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch,
  der nicht überflüssig ist: da beginnt das Lied des Notwendigen,
  die einmalige und unersetzliche Weise.
Dort, wo der Staat aufhört – so seht mir doch hin, meine Brüder!
  Seht ihr ihn nicht, den Regenbogen und die Brücken des Übermenschen? – 3

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•   K. Miehling 

View original text (without footnotes)

Confirmed with Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden, München 1954, Band 2, pages 313-316. Note: we have broken long lines and indented the remainders to make them fit.

1 Miehling: "Also sprach Zarathustra./ Irgendwo"
2 Miehling adds "«Auf der Erde ist nichts Größeres als ich: der ordnende Finger/ bin ich Gottes.»"
3 Miehling adds "Also sprach Zarathustra."

Text Authorship:

  • by Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844 - 1900), "Vom neuen Götzen", appears in Also sprach Zarathustra [author's text checked 1 time against a primary source]

Musical settings (art songs, Lieder, mélodies, (etc.), choral pieces, and other vocal works set to this text), listed by composer (not necessarily exhaustive):

  • by Klaus Miehling (b. 1963), "Vom neuen Götzen", op. 382 (2025) [ baritone, SATB chorus, and orchestra ] [sung text checked 1 time]

Researcher for this text: Emily Ezust [Administrator]

This text was added to the website: 2025-05-04
Line count: 81
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