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by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)

Ur‑Geräusch
Language: German (Deutsch) 
Zur Zeit, als ich die Schule besuchte, 
mochte der Phonograph erst kürzlich erfunden worden sein. 
Er stand jedenfalls im Mittelpunkte des öffentlichen Erstaunens, 
und so mag es sich erklären, daß unser Physiklehrer, 
ein zu allerhand emsigen Basteleien geneigter Mann, 
uns anleitete, einen derartigen 
Apparat aus dem handgreiflichsten Zubehöre geschickt zusammenzustellen. 
Dazu war nicht mehr nötig, als was ich im folgenden aufzähle. 
Ein Stück biegsamerer Pappe, zu einem Trichter zusammengebogen, 
dessen engere runde Öffnung man sofort mit einem Stück 
undurchlässigen Papiers, von jener Art, wie man es zum Verschlusse 
der Gläser eingekochten Obstes zu verwenden pflegt, verklebte, 
auf diese Weise eine schwingende Membran improvisierend, 
in deren Mitte, mit dem nächsten Griff, eine Borste aus einer 
stärkeren Kleiderbürste, senkrecht abstehend, eingesteckt wurde. 
Mit diesem Wenigen war die eine Seite der geheimnisvollen 
Maschine hergestellt, Annehmer und Weitergeber standen in voller
 Bereitschaft, und es handelte sich nur noch um die Verfertigung '
einer aufnehmenden Walze, die, mittels einer kleinen Kurbel drehbar, 
dicht an den einzeichnenden Stift herangeschoben werden konnte. 
Ich erinnere nicht, woraus wir sie herstellten; es fand sich eben 
irgendein Zylinder, den wir, so gut und so schlecht 
uns das gelingen mochte, mit einer dünnen Schicht Kerzenwachs überzogen, 
welches kaum verkaltet und erstarrt war, als wir schon, mit der Ungeduld, 
die über dem dringenden Geklebe und Gemache in uns zugenommen hatte, 
einer den andern fortdrängend, die Probe auf unsere Unternehmung anstellten. 
Man wird sich ohne weiteres vorstellen können, wie das geschah. 
Sprach oder sang jemand in den Schalltrichter hinein, 
so übertrug der in dem Pergamente steckende Stift 
die Tonwellen auf die empfängliche Oberfläche der langsam 
an ihm vorbeigedrehten Rolle, und ließ man gleich darauf 
den eifrigen Zeiger seinen eigenen (inzwischen durch einen Firnis befestigten) 
Weg wieder verfolgen, so zitterte, schwankte aus der papierenen 
Tüte der eben noch unsrige Klang, unsicher zwar, unbeschreiblich leise 
und zaghaft und stellenweise versagend, auf uns zurück. 
Die Wirkung warjedesmal die vollkommenste. 
Unsere Klasse gehörte nicht eben zu den ruhigsten, 
und es möchten nicht viele Augenblicke gewesen sein, da sie, gemeinsam,
 einen ähnlichen Grad von Stille zu erreichen fähig war. 
Das Phänomen blieb ja auch überraschend, ja recht eigentlich erschütternd, 
von einem Male zum anderen. Man stand gewissermaßen einer neuen, 
noch unendlich zarten Stelle der Wirklichkeit gegenüber, aus der uns, 
Kinder, ein bei weitem Überlegenes doch unsäglich anfängerhaft 
und gleichsam Hilfe suchend ansprach. 
Damals und durch die Jahre hin meinte ich, 
es sollte mir gerade dieser selbständige, von uns abgezogene 
und draußen aufbewahrte Klang unvergeßlich bleiben. 
Daß es anders kam, ist die Ursache dieser Aufzeichnung. 
Nicht er, nicht der Ton aus dem Trichter, überwog, 
wie sich zeigen sollte, in meiner Erinnerung, 
sondern jene der Walze eingeritzten Zeichen waren mir 
um vieles eigentümlicher geblieben.
Vierzehn oder fünfzehn Jahre mochten seit jener Schulzeit hingegangen sein, 
als mir dies eines Tages zum Bewußtsein kam. 
Es war in meiner ersten Pariser Zeit, ich besuchte damals mit ziemlichem 
Eifer die AnatomieVorlesungen an der École des Beaux-Arts, 
wobei mich nicht so sehr das vielfältige Geflecht der Muskeln 
und Sehnen oder die vollkommene Verabredung der inneren 
Organe anzusprechen schien, als vielmehr das aride Skelett, 
dessen verhaltene Energie und Elastizität mir damals schon 
über den Blättern Lionardos sichtbar geworden war. 
So sehr ich nun auch an dem baulichen Ganzen rätselte - 
es war mir zu viel; meine Betrachtung sammelte sich immer 
wieder zur Untersuchung des Schädels, in dem, sozusagen, 
das Äußerste, wozu dieses kalkige Element sich noch anspannen konnte, 
mir geleistet schien, als ob es gerade hier überredet worden wäre, 
sich zu einem entscheidenden Dienst bedeutend anzustrengen, 
um ein letzthin Gewagtes, im engen Einschluß schon wieder 
grenzenlos Wirkendes in seinen festesten Schutz zu nehmen. 
Die Bezauberung, die dieses besondere, gegen einen durchaus 
weltischen Raum abgeschlossene Gehäus auf mich ausübte, 
ging schließlich so weit, daß ich mir einen Schädel anschaffte, 
um nun auch so manche Nachtstunde mit ihm zuzubringen; 
und, wie es mir immer mit den Dingen geht: nicht allein die 
Augenblicke absichtlicher Beschäftigung haben mir diesen 
zweideutigen Gegenstand merkwürdigerweise angeeignet, - 
meine Vertrautheit mit ihm verdanke ich ohne Zweifel zu einem 
gewissen Teile dem streifenden Blick, mit dem wir die gewohnte 
Umgebung, wenn sie nur einige Beziehung zu uns hat, 
unwillkürlich prüfen und auffassen. Ein solcher Blick war es, 
den ich plötzlich in seinem Verlaufe anhielt und genau 
und aufmerksam einstellte. In dem oft so eigentümlich wachen 
und auffordernden Lichte der Kerze war mir soeben die 
Kronen-Naht ganz auffallend sichtbar geworden, 
und schon wußte ich auch, woran sie mich erinnerte: 
an eine jener unvergessenen Spuren, wie sie einmal durch die 
Spitze einer Borste in eine kleine Wachsrolle eingeritzt worden waren!


Und nun weiß ich nicht: ist es eine rhythmische Eigenheit meiner Einbildung, 
daß mir seither, oft in weiten Abständen von Jahren, 
immer wieder der Antrieb aufsteigt, aus dieser damals unvermittelt 
wahrgenommenen Ähnlichkeit den Absprung zu nehmen zu 
einer ganzen Reihe von unerhörten Versuchen? Ich gestehe sofort,
 daß ich die Lust dazu, so oft sie sich meldete, nie anders, 
als mit dem strengsten Mißtrauen behandelt habe, - 
bedarf es eines Beweises dafür, so liege er in dem Umstande, 
daß ich mich erst jetzt, wiederum mehr als anderthalb Jahrzehnte später, 
zu einer vorsichtigen Mitteilung entschließe. 
Auch habe ich zugunsten meines Einfalls mehr nicht anzuführen, 
als seine eigensinnige Wiederkehr, durch die er mich, 
ohne Zusammenhang mit meinen übrigen Beschäftigungen, 
bald hier, bald dort, in den unterschiedlichsten Verhältnissen 
überrascht hat.


Was  wird nun immer wieder innerlich vorgeschlagen ? Es ist dieses:

Die Kronen-Naht des Schädels (was nun zunächst zu untersuchen wäre) hat - 
nehmen wirs an - eine gewisse Ähnlichkeit mit der dicht gewundenen Linie, 
die der Stift eines Phonographen in den empfangenden rotierenden Zylinder 
des Apparates eingräbt. Wie nun, wenn man diesen Stift täuschte und ihn, 
wo er zurückzuleiten hat, über eine Spur lenkte, die nicht 
aus der graphischen Übersetzung eines Tones stammte, sondern 
ein an sich und natürlich Bestehendes -, gut: sprechen wirs nur aus: 
eben (z. B.) die Kronen-Naht wäre -: Was würde geschehen? - 
Ein Ton müßte entstehen, eine Ton-Folge, eine Musik ...

Gefühle - welche? Ungläubigkeit, Scheu, Furcht, Ehrfurcht -: ja, 
welches nur von allen hier möglichen Gefühlen verhindert mich, 
einen Namen vorzuschlagen für das Ur-Geräusch,welches da zur 
Welt kommen sollte ...

Dieses für einen Augenblick hingestellt: 
was für irgendwo vorkommende Linien möchte man 
da nicht unterschieben und auf die Probe stellen? 
welchen Kontur nicht gewissermaßen auf diese Weise zu Ende ziehen, 
um ihn dann, verwandelt, in einem anderen Sinn-Bereich herandringen 
zu fühlen?


In einer gewissen Zeit, da ich mich mit arabischen Gedichten zu 
beschäftigen begann, an deren Entstehung die fünf Sinne einen 
gleichzeitigeren und gleichmäßigeren Anteil zu haben schienen, 
fiel es mir zuerst auf, wie ungleich und einzeln der jetzige 
europäische Dichter sich dieser Zuträger bedient, von denen fast nur 
der eine, das Gesicht, mit Welt überladen, ihn beständig überwältigt; 
wie gering ist dagegen schon der Beitrag, den das unaufmerksame 
Gehör ihm zuflößt, gar nicht zu reden von der Teilnahmslosigkeit 
der übrigen Sinne, die nur abseits und mit vielen Unterbrechungen 
in ihren nützlich eingeschränkten Gebieten sich betätigen. 
Und doch kann das vollendete Gedicht nur unter der Bedingung entstehen, 
daß die mit fünf Hebeln gleichzeitig angegriffene Welt 
unter einem bestimmten Aspekt auf jener übernatürlichen Ebene 
erscheine, die eben die des Gedichtes ist.
Eine Frau, der solches in einem Gespräche vorgetragen wurde, 
rief aus, diese wunderbare, zugleich einsetzende Befähigung 
und Leistung aller Sinne sei doch nichts anderes, als Geistesgegenwart 
und Gnade der Liebe, - und sie legte damit (nebenbei) ein gutes 
Zeugnis ein für die sublime Wirklichkeit des Gedichts. Aber eben 
deshalb ist der Liebende in so großartiger Gefahr, weil er auf das 
Zusammenwirken seiner Sinne angewiesen ist, von denen er doch weiß, 
daß sie nur in jener einzigen gewagten Mitte sich treffen, in der sie, 
alle Breite aufgebend, zusammenlaufen und in der kein Bestand ist.

Indem ich mich so ausdrücke, habe ich schon die Zeichnung vor mir, 
deren ich mich, als eines angenehmen Behelfes, jedesmal bediente, 
so oft ähnliche Erwägungen sich aufdrängten. Stellt man sich das
 gesamte Erfahrungsbereich der Welt, auch seine uns übertreffenden 
Gebiete, in einem vollen Kreise dar, so wird es sofort augenscheinlich, 
um wieviel größer die schwarzen Sektoren sind, die das uns 
Unerfahrbare bezeichnen, gemessen an den ungleichen lichten Ausschnitten,
die den Scheinwerfern der Sensualität entsprechen.

Nun ist die Lage des Liebenden die, daß er sich unversehens in die 
Mitte des Kreises gestellt fühlt, dorthin also, wo das Bekannte und 
das Unerfaßliche in einem einzigen Punkte zusammendringt, 
vollzählig wird und Besitz schlechthin, allerdings unter 
Aufhebung aller Einzelheit. Dem Dichter wäre mit dieser 
Versetzung nicht gedient, ihm muß das vielfältig Einzelne 
gegenwärtig bleiben, er ist angehalten, die Sinnesausschnitte 
ihrer Breite nach zu gebrauchen, und so muß er auch wünschen,
 jeden einzelnen so weit als möglich auszudehnen, damit einmal 
seiner geschürzten Entzückung der Sprung durch die fünf Gärten 
in einem Atem gelänge.

Beruht die Gefahr des Liebenden in der Unausgedehntheit seines 
Standpunkts, so ist es jene des Dichters, der Abgründe gewahr zu werden,
 die die eine Ordnung der Sinnlichkeit von der anderen scheiden: in der Tat, 
sie sind weit und saugend genug, um den größeren Teil der Welt - 
und wer weiß, wieviel Welten - an uns vorbei hinwegzureißen.

Die Frage entsteht hier, ob die Arbeit des Forschers die Ausdehnung 
dieser Sektoren in der von uns angenommenen Ebene wesentlich zu 
erweitern vermag? Ob nicht die Erwerbungen des Mikroskops, 
des Fernrohrs und so vieler, die Sinne nach oben oder unten 
verschiebender Vorrichtungen in. eine andere Schichtung 
zu liegen kommen, da doch der meiste, so gewonnene Zuwachs 
sinnlich nicht durchdrungen, also nicht eigentlich "erlebt" 
werden kann. Es möchte nicht voreilig sein, zu vermuten, 
daß der Künstler, der diese (wenn man es so nennen darf) 
fünffingrige Hand seiner Sinne zu immer regerem 
und geistigerem Griffe entwickelt, am entscheidendsten 
an einer Erweiterung der einzelnen Sinngebiete arbeitet, 
nur daß seine beweisende Leistung, da sie ohne das Wunder 
zuletzt nicht möglich ist, ihm nicht erlaubt, den persönlichen
 Gebietsgewinn in die aufgeschlagene allgemeine Karte einzutragen.

Sieht man sich aber nun nach einem Mittel um, 
unter so seltsam abgetrennten Bereichen die schließlich dringende 
Verbindung herzustellen, welches könnte versprechender sein, als jener, 
in den ersten Seiten dieser Erinnerung angeratene Versuch? 
Wenn er hier am Schlusse, mit der schon versicherten Zurückhaltung, 
nochmals vorgeschlagen wird, so möge man es dem Schreibenden 
in einem gewissen Grade anrechnen, daß er der Verführung widerstehen 
konnte, die damit gebotenen Voraussetzungen in den freien Bewegungen 
der Phantasie willkürlich auszuführen. Dafür schien ihm der, 
während so vielen Jahren übergegangene und immer wieder 
hervortretende Auftrag zu begrenzt und zu ausdrücklich zu sein.

Soglio, am Tage Mariae Himmelfahrt 1919

Confirmed with Rainer Maria Rilke, Primal sound, Public Domain Mark 1.0, 2018


Text Authorship:

  • by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), "Ur-Geräusch" [author's text checked 1 time against a primary source]

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  • Also set in English, a translation by Anonymous/Unidentified Artist , "Primal Sound" ; composed by Zosha Di Castri.
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Researcher for this page: Joost van der Linden [Guest Editor]

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