LiederNet logo

CONTENTS

×
  • Home | Introduction
  • Composers (20,102)
  • Text Authors (19,442)
  • Go to a Random Text
  • What’s New
  • A Small Tour
  • FAQ & Links
  • Donors
  • DONATE

UTILITIES

  • Search Everything
  • Search by Surname
  • Search by Title or First Line
  • Search by Year
  • Search by Collection

CREDITS

  • Emily Ezust
  • Contributors (1,114)
  • Contact Information
  • Bibliography

  • Copyright Statement
  • Privacy Policy

Follow us on Facebook

by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)

Du bist nicht bang, davon zu sprechen?
Language: German (Deutsch) 
Der Fremde:
Du bist nicht bang, davon zu sprechen?

Die Blinde:
Nein.
Es ist so ferne. Das war eine andre.
Die damals sah, die laut und schauend lebte,
die starb.

Der Fremde:
Und hatte einen schweren Tod?

Die Blinde:
Sterben ist Grausamkeit an Ahnungslosen.
Stark muss man sein, sogar wenn Fremdes stirbt.

Der Fremde:
Sie war dir fremd?

Die Blinde:
- Oder: sie ists geworden.
Der Tod entfremdet selbst dem Kind die Mutter. -
Doch es war schrecklich in den ersten Tagen.
Am ganzen Leibe war ich wund. Die Welt,
die in den Dingen blüht und reift,
war mit den Wurzeln aus mir ausgerissen,
mit meinem Herzen (schien mir), und ich lag
wie aufgewühlte Erde offen da und trank
den kalten Regen meiner Tränen,
der aus den toten Augen unaufhörlich
und leise strömte, wie aus leeren Himmeln,
wenn Gott gestorben ist, die Wolken lallen.
und mein Gehör war groß und allem offen.
Ich hörte Dinge, die nicht hörbar sind:
die Zeit, die über meine Haare floss,
die Stille, die in zarten Gläsern klang, -
und fühlte: nah bei meinen Händen ging
der Atem einer großen weißen Rose.
Und immer wieder dacht ich: Nacht und: Nacht
und glaubte einen hellen Streif zu sehn,
der wachsen würde wie ein Tag;
und glaubte auf den Morgen zuzugehn,
der längst in meinen Händen lag.
Die Mutter weckt ich, wenn der Schlaf mir schwer
hinunterfiel vom dunklen Gesicht,
der Mutter rief ich: »Du, komm her!
Mach Licht!«
Und horchte. Lange, lange blieb es still,
und meine Kissen fühlte ich versteinen, -
dann wars, als säh ich etwas scheinen:
das war der Mutter wehes Weinen,
an das ich nicht mehr denken will.
Mach Licht! Mach Licht! Ich schrie es oft im Traum:
Der Raum ist eingefallen. Nimm den Raum
mir vom Gesicht und von der Brust.
Du musst ihn heben, hochheben,
musst ihn wieder den Sternen geben;
ich kann nicht leben so, mit dem Himmel auf mir.
Aber sprech ich zu dir, Mutter?
Oder zu wem denn? Wer ist denn dahinter?
Wer ist denn hinter dem Vorhang? - Winter?
Mutter: Sturm? Mutter: Nacht? Sag!
Oder: Tag?.......Tag!
Ohne mich! Wie kann es denn ohne mich Tag sein?
Fehl ich denn nirgends?
Fragt denn niemand nach mir?
Sind wir denn ganz vergessen?
Wir?.......Aber du bist ja dort;
du hast ja noch alles, nicht?
Um dein Gesicht sind noch alle Dinge bemüht,
ihm wohlzutun.
Wenn deine Augen ruhn
und wenn sie noch so müd waren,
sie können wieder steigen.
... Meine schweigen.
Meine Blumen werden die Farbe verlieren.
Meine Spiegel werden zufrieren.
In meinen Büchern werden die Zeilen verwachsen.
Meine Vögel werden in den Gassen
herumflattern und sich an fremden Fenstern verwunden.
Nichts ist mehr mit mir verbunden.
Ich bin von allem verlassen. -
Ich bin eine Insel.

Der Fremde:
Und ich bin über das Meer gekommen.

Die Blinde:
Wie? Auf die Insel?... Hergekommen?

Der Fremde:
Ich bin noch im Kahne.
Ich habe ihn leise angelegt -
an dich. Er ist bewegt:
seine Fahne weht landein.

Die Blinde:
Ich bin eine Insel und allein.
Ich bin reich. -
Zuerst, als die alten Wege noch waren
in meinen Nerven, ausgefahren
von vielem Gebrauch:
da litt ich auch.
Alles ging mir aus dem Herzen fort,
ich wusste erst nicht wohin;
aber dann fand ich sie alle dort,
alle Gefühle, das, was ich bin,
stand versammelt und drängte und schrie
an den vermauerten Augen, die sich nicht rührten.
Alle meine verführten Gefühle...
Ich weiß nicht, ob sie Jahre so standen,
aber ich weiß von den Wochen,
da sie alle zurückkamen gebrochen
und niemanden erkannten.

Dann wuchs der Weg zu den Augen zu.
Ich weiß ihn nicht mehr.
Jetzt geht alles in mir umher,
sicher und sorglos; wie Genesende
gehn die Gefühle, genießend das Gehn,
durch meines Leibes dunkles Haus.
Einige sind Lesende
über Erinnerungen;
aber die jungen
sehn alle hinaus.
Denn wo sie hintreten an meinen Rand,
ist mein Gewand von Glas.
Meine Stirne sieht, meine Hand las
Gedichte in anderen Händen.
Mein Fuß spricht mit den Steinen, die er betritt,
meine Stimme nimmt jeder Vogel mit
aus den täglichen Wänden.
Ich muss nichts mehr entbehren jetzt,
alle Farben sind übersetzt
in Geräusch und Geruch.
Und sie klingen unendlich schön
als Töne.
Was soll mir ein Buch?
In den Bäumen blättert der Wind;
und ich weiß, was dorten für Worte sind,
und wiederhole sie manchmal leis.
Und der Tod, der Augen wie Blumen bricht,
findet meine Augen nicht.....

Der Fremde leise:
Ich weiß.

About the headline (FAQ)

Confirmed with Rainer Maria Rilke, rainer-maria-rilke.de/06d016dieblinde.html


Text Authorship:

  • by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), "Die Blinde" [author's text checked 1 time against a primary source]

Musical settings (art songs, Lieder, mélodies, (etc.), choral pieces, and other vocal works set to this text), listed by composer (not necessarily exhaustive):

  • by Werner Hans Hagen (b. 1944), "Die Blinde" [sung text not yet checked]
  • by Géza Horváth (1868 - 1925), "Die Blinde" [ alto, 2 speakers, flute, piano, trumpet, violoncello ], Peters [sung text not yet checked]
  • by Gerhard Rosenkrone Schjelderup (1859 - 1933), "Die Blinde" [ narrator and piano trio or orchestra ], Melodram [sung text not yet checked]
  • by Josep Soler i Sardà (1935 - 2022), "Der Tod entfremdet selbst dem Kind die Mutter", 2006 [ soprano, clarinet and piano ], from Der Gesang der Blinde, no. 1 [sung text not yet checked]
  • by Josep Soler i Sardà (1935 - 2022), "Aber sprech ich zu dir", 2006 [ voice, clarinet and piano ], from Der Gesang der Blinde, no. 3 [sung text not yet checked]

Researcher for this page: Joost van der Linden [Guest Editor]

This text was added to the website: 2023-10-19
Line count: 135
Word count: 732

Gentle Reminder

This website began in 1995 as a personal project by Emily Ezust, who has been working on it full-time without a salary since 2008. Our research has never had any government or institutional funding, so if you found the information here useful, please consider making a donation. Your help is greatly appreciated!
–Emily Ezust, Founder

Donate

We use cookies for internal analytics and to earn much-needed advertising revenue. (Did you know you can help support us by turning off ad-blockers?) To learn more, see our Privacy Policy. To learn how to opt out of cookies, please visit this site.

I acknowledge the use of cookies

Contact
Copyright
Privacy

Copyright © 2025 The LiederNet Archive

Site redesign by Shawn Thuris