by Hans Bötticher (1883 - 1934), as Joachim Ringelnatz
In Zelle 108
Language: German (Deutsch)
In der Gefängniszelle 108 Erschien die langevergessene Sehnsucht wieder. Vom hohen Fenster stieg sie mild und sacht An einem schmalen Sonnenstrahl hernieder. Sie grüßte einen müden, kranken Mann Und sang ein Lied in seine wachen Träume, Bis eine Träne auf sein Lager rann. Da wuchsen aus der Träne grüne Baüme. Und Wiesen, blütenbunt und sonnenhell, Enstanden rings und hauchten zarte Düfte. Durch frisches Grün sprang lustig wild ein Quell. Ein Vogelschlag durchjubelte die Lüfte. Und sieh, der Kranke war nicht mehr allein, Denn eine Schar von Dienern stand in Garten. Die riefen: "Herr, viel Gold und Glanz ist dein, Sieh uns als Diener deinen Wunsch erwarten." Der aber sprach und lächelte dabei: "Nehmt Gold und Glanz und lebt damit zufrieden! Ich habe keinen Wunsch, ich - - bin ja frei. Geht hin! Euch sie dasselbe Los beschieden." Aus der Gefängniszelle 108 Ward selben Tags in später Dämmerstunde Ein toter alter Mann herausgrbracht. Ein Lächeln lag auf seinem bleichen Munde.
Text Authorship:
- by Hans Bötticher (1883 - 1934), as Joachim Ringelnatz, first published 1910 [author's text not yet checked against a primary source]
Musical settings (art songs, Lieder, mélodies, (etc.), choral pieces, and other vocal works set to this text), listed by composer (not necessarily exhaustive):
- by Gary Bachlund (b. 1947), "In Zelle 108", 2009 [medium voice and piano] [ sung text checked 1 time]
Researcher for this text: Emily Ezust [Administrator]
This text was added to the website: 2009-11-23
Line count: 24
Word count: 157