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by Johann Wolfgang von Goethe (1749 - 1832)

Die Natur
Language: German (Deutsch) 
Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen -- unvermögend, aus ihr
herauszutreten, und unvermögend, tiefer in sie
hineinzukommen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf
ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind
und ihrem Arme entfallen.

Sie schafft ewig neue Gestalten; was da ist, war noch nie; was war,
kommt nicht wieder -- alles ist neu und doch immer das alte.

Wir leben mitten in ihr und sind ihr fremd. Sie spricht unaufhörlich
mit uns und verrät uns ihr Geheimnis nicht. Wir wirken beständig auf
sie und haben doch keine Gewalt über sie.

Sie scheint alles auf Individualität angelegt zu haben und macht sich
nichts aus den Individuen. Sie baut immer und zerstört immer, und ihre
Werkstätte ist unzugänglich.

Sie lebt in lauter Kindern; und die Mutter, wo ist sie? -- Sie ist die
einzige Künstlerin: Aus dem simpelsten Stoff zu den größten
Kontrasten; ohne Schein der Anstrengung zu der größten Vollendung --
zur genausten Bestimmtheit, immer mit etwas Weichem überzogen. Jedes
ihrer Werke hat ein eigenes Wesen, jede ihrer Erscheinungen den
isoliertesten Begriff, und doch macht alles eins aus.

Sie spielt ein Schauspiel; ob sie es selbst sieht, wissen wir nicht,
und doch spielt sie's für uns, die wir in der Ecke stehen.

Es ist ein ewiges Leben, Werden und Bewegen in ihr, und doch rückt sie
nicht weiter. Sie verwandelt sich ewig, und ist kein Moment
Stillestehen in ihr. Fürs Bleiben hat sie keinen Begriff, und ihrem
Fluch hat sie ans Stillestehen gehängt. Sie ist fest. Ihr Tritt ist
gemessen, ihre Ausnahmen selten, ihre Gesetze unwandelbar.

Gedacht hat sie und sinnt beständig; aber nicht als ein Mensch,
sondern als Natur. Sie hat sich einen eigenen allumfassenden Sinn
vorbehalten, den ihr niemand abmerken kann.

Die Menschen sind all in ihr und sie in allen. Mit allen treibt sie
ein freundliches Spiel und freut sich, je mehr man ihr abgewinnt. Sie
treibt's mit vielen so im Verborgenen, dass sie's zu Ende spielt, ehe
sie's merken.

Auch das Unnatürlichste ist die Natur. Wer sie nicht allenthalben
sieht, sieht sie nirgendwo recht.

Sie liebt sich selber und haftet ewig mit Augen und Herzen ohne Zahl
an sich selbst. Sie hat sich auseinandergesetzt, um sich selbst zu
genießen. Immer lässt sie neue Genießer erwachsen, unersättlich, sich
mitzuteilen.

Sie freut sich an der Illusion. Wer diese in sich und andern zerstört,
den straft sie als der strengste Tyrann. Wer ihr zutraulich folgt, den
drückt sie wie ein Kind an ihr Herz.

Ihre Kinder sind ohne Zahl. Keinem ist sie überall karg, aber sie hat
Lieblinge, an die sie viel verschwendet und denen sie viel
aufopfert. Ans Große hat sie ihren Schutz geknüpft.

Sie spritzt ihre Geschöpfe aus dem Nichts hervor und sagt ihnen nicht,
woher sie kommen und wohin sie gehen. Sie sollen nur laufen. Die Bahn
kennt sie.

Sie hat wenige Triebfedern, aber nie abgenutzte, immer wirksam, immer
mannigfaltig.

Ihr Schauspiel ist immer neu, weil sie immer neue Zuschauer
schafft. Leben ist ihre schönste Erfindung, und der Tod ist ihr
Kunstgriff, viel Leben zu haben.

Sie hüllt den Menschen in Dumpfheit ein und spornt ihn ewig zum
Licht. Sie macht ihn abhängig zur Erde, träg und schwer und schüttelt
ihn immer wieder auf.

Sie gibt Bedürfnisse, weil sie Bewegung liebt. Wunder, dass sie alle
diese Bewegung mit so Wenigem erreicht. Jedes Bedürfnis ist
Wohltat. Schnell befriedigt, schnell wieder erwachsend. Gibt sie eins
mehr, so ist's ein neuer Quell der Lust; aber sie kommt bald ins
Gleichgewicht.

Sie setzt alle Augenblicke zum längsten Lauf an und ist alle
Augenblicke am Ziele.

Sie ist die Eitelkeit selbst; aber nicht für uns, denen sie sich zur
größten Wichtigkeit gemacht hat.

Sie lässt jedes Kind an sich künsteln, jeden Toren über sich richten,
tausend stumpf über sich hingehen und nichts sehen und hat an allen
ihre Freude und findet bei allen ihre Rechnung.

Man gehorcht ihren Gesetzen, auch wenn man ihnen widerstrebt; man
wirkt mit ihr, auch wenn man gegen sie wirken will.

Sie macht alles, was sie gibt, zur Wohltat; denn sie macht es erst
unentbehrlich. Sie säumt, dass man sie verlange; sie eilt, dass man
sie nicht satt werde.

Sie hat keine Sprache noch Rede; aber sie schafft Zungen und Herzen,
durch die sie fühlt und spricht.

Ihre Krone ist die Liebe. Nur durch sie kommt man ihr nahe. Sie macht
Klüfte zwischen allen Wesen, und alles will sich verschlingen. Sie hat
alles isoliert, um alles zusammen zu ziehen. Durch ein paar Züge aus
dem Becher der Liebe hält sie für ein Leben voll Mühe schadlos.

Sie ist alles. Sie belohnt sich selbst und bestraft sich selbst,
erfreut und quält sich selbst. Sie ist rau und gelinde, lieblich und
schrecklich, kraftlos und allgewaltig. Alles ist immer da in
ihr. Vergangenheit und Zukunft kennt sie nicht. Gegenwart ist ihr
Ewigkeit. Sie ist gütig. Ich preise sie mit allen ihren Werken. Sie
ist weise und still. Man reißt ihr keine Erklärung vom Leibe, trutzt
ihr kein Geschenk ab, das sie nicht freiwillig gibt. Sie ist listig,
aber zu gutem Ziele, und am besten ist's, ihre List nicht zu merken.

Sie ist ganz, und doch immer unvollendet. So wie sie's treibt, kann
sie's immer treiben.

Jedem erscheint sie in einer eigenen Gestalt. Sie verbirgt sich in
tausend Namen und Termen und ist immer dieselbe.

Sie hat mich hereingestellt, sie wird mich auch herausführen. Ich
vertraue mich ihr. Sie mag mit mir schalten. Sie wird ihr Werk nicht
hassen. Ich sprach nicht von ihr. Nein, was wahr ist, und was falsch
ist, alles hat sie gesprochen. Alles ist ihre Schuld, alles ist ihr
Verdienst.

Text Authorship:

  • by Johann Wolfgang von Goethe (1749 - 1832), "Die Natur" [author's text checked 1 time against a primary source]

Musical settings (art songs, Lieder, mélodies, (etc.), choral pieces, and other vocal works set to this text), listed by composer (not necessarily exhaustive):

  • by Hermann Karl Josef Zilcher (1881 - 1948), "Die Natur", op. 47. [medium voice and piano] [
     text not verified 
    ]

Researcher for this text: Emily Ezust [Administrator]

This text was added to the website: 2011-08-10
Line count: 96
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