Ich bete wieder, du Erlauchter, du hörst mich wieder durch den Wind, weil meine Tiefen nie gebrauchter rauschender Worte mächtig sind. Ich war zerstreut; an Widersacher in Stücken war verteilt mein Ich. O Gott, mich lachten alle Lacher, und alle Trinker tranken mich. In Höfen hab ich mich gesammelt aus Abfall und aus altem Glas, mit halbem Mund dich angestammelt, dich, ewiger aus Ebenmaß. Wie hob ich meine halben Hände zu dir in namenlosem Flehn, dass ich die Augen wiederfände, mit denen ich dich angesehn. Ich war ein Haus nach einem Brand, darin nur Mörder manchmal schlafen, eh ihre hungerigen Strafen sie weiterjagen in das Land; ich war wie eine Stadt am Meer, wenn eine Seuche sie bedrängte, die sich wie eine Leiche schwer den Kindern in die Hände hängte. Ich war mir fremd wie irgendwer und wusste nur von ihm, dass er einst meine junge Mutter kränkte, als sie mich trug, und dass ihr Herz, das eingeengte, sehr schmerzhaft an mein Keimen schlug. Jetzt bin ich wieder aufgebaut aus allen Stücken meiner Schande und sehne mich nach einem Bande, nach einem einigen Verstande, der mich wie ein Ding überschaut, - nach deines Herzens großen Händen - (o kämen sie doch auf mich zu) ich zähle mich, mein Gott, und du, du hast das Recht, mich zu verschwenden.
Fünf Chöre nach Worten von Rainer Maria Rilke
by Ronald Joachim Autenrieth (b. 1959)
1. Die erlauchte Fantasie  [sung text not yet checked]
Text Authorship:
- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), no title, appears in Das Stundenbuch, in 2. Das Buch von der Pilgerschaft, no. 2
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Researcher for this text: Emily Ezust [Administrator]2. Nichts ist mir zu klein  [sung text not yet checked]
Da neigt sich die Stunde und rührt mich an mit klarem, metallenem Schlag: mir zittern die Sinne. Ich fühle: ich kann - und ich fasse den plastischen Tag. Nichts war [noch]1 vollendet, eh ich es erschaut, ein jedes Werden stand still. Meine Blicke sind reif, und wie eine Braut kommt jedem das Ding, das er will. Nichts ist mir zu klein, und ich lieb es trotzdem und mal' es auf Goldgrund und groß, und halte es hoch, und ich weiß nicht wem löst es die Seele los...
Text Authorship:
- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), "Da neigt sich die Stunde", written 1899, appears in Das Stundenbuch, in 1. Das Buch vom mönchischen Leben , no. 1, first published 1905
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Available translations, adaptations or excerpts, and transliterations (if applicable):
- ENG English (Walter A. Aue) , "The hour is turning", copyright © 2008, (re)printed on this website with kind permission
- FRE French (Français) (Pierre Mathé) , "Alors l'heure se penche et me touche", copyright © 2012, (re)printed on this website with kind permission
Confirmed with Rainer Maria Rilke, Werke, kommentierte Ausgabe in vier Bänden, Band 1 Gedichte 1895 bis 1910, herausgegeben von Manfred Engel und Ulrich Fülleborn, Frankfurt am Main und Leipzig: Insel Verlag, 1996, page 157.
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3. Der Dichter  [sung text not yet checked]
Du entfernst dich von mir, du Stunde. Wunden schlägt mir dein Flügelschlag. Allein: was soll ich mit meinem Munde? mit meiner Nacht? mit meinem Tag? Ich habe keine Geliebte, kein Haus, keine Stelle auf der ich lebe Alle Dinge, an die ich mich gebe, werden reich und geben mich aus.
Text Authorship:
- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), "Der Dichter", written 1905-1906
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Researcher for this text: Emily Ezust [Administrator]4. Noch ist uns das Dasein verzaubert  [sung text not yet checked]
Alles Erworbne bedroht die Maschine, solange sie sich erdreistet, im Geist, statt im Gehorchen, zu sein. Dass nicht der herrlichen Hand schöneres Zögern mehr prange, zu dem entschlossenem Bau schneidet sie steifer den Stein. Nirgends bleibt sie zurück, dass wir ihr ein Mal entrönnen und sie in stiller Fabrik ölend sich selber gehört. Sie ist das Leben, — sie meint es am besten zu können, die mit dem gleichen Entschluss ordnet und schafft und zerstört. Aber noch ist uns das Dasein verzaubert; an hundert Stellen ist es noch Ursprung. Ein Spielen von reinen Kräften, die keiner berührt, der nicht kniet und bewundert. Worte gehen noch zart am Unsäglichen aus ... Und die Musik, immer neu, aus den bebendsten Steinen, baut im unbrauchbaren Raum ihr vergöttlichtes Haus.
Text Authorship:
- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), no title, appears in Die Sonette an Orpheus 2, no. 10
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Researcher for this text: Emily Ezust [Administrator]5. Das ist die Sehnsucht  [sung text not yet checked]
Das ist die Sehnsucht: wohnen im Gewoge und keine Heimat haben in der Zeit. Und das sind Wünsche: leise Dialoge täglicher Stunden mit der Ewigkeit. Und das ist Leben. Bis aus einem Gestern die einsamste Stunde steigt, die, anders lächelnd als die andern Schwestern, dem Ewigen entgegenschweigt.
Text Authorship:
- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), "Motto", appears in Frühe Gedichte, in Mir zur Feier
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