by Friedrich Theodor Vischer (1807 - 1887)
An das Mitleid
Language: German (Deutsch)
Dich, der schaffenden Gottheit, Nachgeborne bessere Schwester, Mitleid, dich will ich preisen! Unergründlich an Geist ist jene, An gestaltenzeugender Bildnerkraft, Unergründlich an Grausamkeit; Auf Wechselfolter und Wechselmord Hat sie die strotzende, lebenstrunkne, Jauchzende Schöpfung angelegt Und als Meister in Mord und Folter Obenauf den Menschen gesetzt. Die Schwester, da sie es werden sah, Legte das Haupt ihr an den Busen, Den marmorgleichen, und flehte, flehte. Kein Wort, kein Hauch, kein Blick Sprach von Erhörung. Sie wandte sich ab Und seufze und schwieg und rührte die breiten Silberschwingen und schwebte nieder, Nieder zur Erde; Himmlischen Balsams ein Gefäß Trug sie sorgsam in weicher Hand. Als sie der Erde näher kam, Wuchs an ihr Ohr eine Welt von Tönen, Wie sie des Sterblichen eingeschränkte Hörkraft nimmer und nie vernimmt. Auch die Schaar der armen Geschöpfe, Denen der Laut der Klage versagt ist: Das edle Roß, das in Jugendfeuer Stolz und wiehernd den Reiter trägt Und im Alter langsam zu Tod gequält wird, Weil es unter des Treibers Hieben Den Schmerz in die Luft nicht heulen kann, Der Wurm im Grase, der Schmetterling, Der Fisch und die winzigen Thierchen all Im Reich des Wassers, der Luft, der Erde –: Ihrem Gehör, dem geisterfeinen, Schwiegen alle die Stummen nicht; Aber die andern, denen die Klage, Denen der arme Trost gegönnt ist, In Lauten zu sagen, was sie leiden: Auch ihr leisestes Weh und Ach, Auch das gepreßte, das halb erstickte Stöhnen der wunden, tödtlich gekränkten Menschenseele, Alles vernahm sie Und Alles, wie fern es mochte verhallen, Klang ihr, als tönt' es in nächster Nähe. Und nun – kein Wort hat die Sprache dafür, Welch' ein Lärm, aus jeglichem Ton Des Jammers gehäuft, aus Schluchzen und Aechzen, Aus Wimmern, aus wildem Schrei und Gebrüll, Aus markdurchbohrendem, dumpfem O! Aufschlug an die Pforten ihres Fühlens, Erdrückend mit grauser Uebermacht Die Stimmen der Freude, die Jubelrufe Aus den Kehlen beglückter Wesen. Ihr war, als müßte krachend Zerbersten das eherne Himmelsgewölbe. Ein Seufzer entrang sich ihren Lippen, Nicht laut auftönend, aber so grundtief Aus der zerrissnen Seele geholt, Daß er durch all das Qualengeheul Wie geschliffner Stahl hindurchschnitt Und hinaus in die Weite des Weltalls drang. Sie sank zu Boden, sie lag wie todt. Langsam kehrte ihr göttliches Selbst Zu sich zurück. Sie raffte sich auf. Entschlossen stand sie und sprach die Worte: »Wenig, wenig vermag das Mitleid In der also bestellten Welt: Aber dieß Wenige ist nicht Nichts. Ich will es thun. Nicht feig will ich sein, Will hören lernen die fürchterlichen Chöre des Jammers, schauen lernen In die klaffenden grausen Wunden, Und nimmer wanken und nimmer weichen!« Sie ergriff das entglittene Balsamgefäß, Mit nervigem Schritte ging sie fürbaß Mitten hinein in des Lebens Schlachtfeld. O himmlischer Geist, verlaß uns nicht! Weile, weile im Thal der Qualen, Im Thale der Seufzer und des Stöhnens! Deines Balsams göttlichen Heilsaft Geuß in die Wunden! Lege die weiche, Sanfte Hand an die kranken Herzen, Auf des Leidenden eiskalt feuchte Stirne! Der Blick des Dankes, der bleiche Strahl Aus weinenden Augen sei dir Stärkung! Dir werde zu Muth, als hättest du selbst dich In unendlichem Weh gelabt und geheilt! Auch sie vergiß'st du – ich weiß es – nicht, Die mißhandelte, seufzende Kreatur, Die mit Worten nicht danken kann! Auch ihr dumpferes Auge vermag es, Blicke des Dankes emporzurichten Zu der helfenden Liebe mildem Antlitz. Walte, walte im dunklen Leben! Du waltest, o, du ermüdest nicht! Durch schwüle, dampfende Todesschatten Erblick ich deine reine Gestalt, Schimmernd in bläulichem Lichte schwebt sie Geschäftig dahin und neigt sich nieder, Wo ein verwundetes Wesen schmachtet, Und beugt sich über und flüstert leise Worte des Trostes und lindert und heilt.
Authorship:
- by Friedrich Theodor Vischer (1807 - 1887), "An das Mitleid", appears in Lyrische Gänge [author's text checked 1 time against a primary source]
Musical settings (art songs, Lieder, mélodies, (etc.), choral pieces, and other vocal works set to this text), listed by composer (not necessarily exhaustive):
- by Julius Röntgen (1855 - 1932), "An das Mitleid", 1926, published 2004 [ voice, viola, and piano ], from Lyrische Gänge, no. 5 [sung text not yet checked]
Researcher for this text: Emily Ezust [Administrator]
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