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by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)

Lieber und geehrter Herr
Language: German (Deutsch) 
Rom, am 29. Oktober 1903

Lieber und geehrter Herr,

Ihren Brief vom 29, August empfing in ich Florenz, und nun - nach zwei
Monaten erst - sage ich Ihnen davon. Verzeihen Sie nur diese
Säumigkeit, - aber ich schreibe unterwegs ungern Briefe, weil ich zum
Briefschreiben mehr brauche als das allernötigste Gerät: etwas Stille
und Einsamkeit und eine nicht allzu fremde Stunde.  In Rom trafen wir
vor etwas sechs Wochen ein, zu einer Zeit, da es noch das leere, das
heiße, das fieberverrufene Rom war, und dieser Umstand trug mit
anderen praktischen Einrichtungsschwierigkeiten dazu bei, daß die
Unruhe um uns kein Ende nehmen wollte und die Fremde mit der Last der
Heimatlosigkeit auf uns lag. Dazu ist noch zu rechnen, daß Rom (wenn
man es noch nicht kennt) in den ersten Tagen erdrückend traurig wirkt:
durch die unlebendige und trübe Museumsstimmung, die es ausatmet,
durch die Fülle seiner hervorgeholten und mühsam aufrecht erhaltenen
Vergangenheiten (von denen eine kleine Gegenwart sich ernährt), durch
die namenlose, von Gelehrten und Philologen unterstützte und von den
gewohnheitsmäßigen Italienreisenden nachgeahmte Überschätzung aller
dieser entstellten und verdorbenen Dinge, die doch im Grunde nicht
mehr sind als zufällige Reste einer anderen Zeit und eines Lebens, das
nicht unseres ist und unseres nicht sein soll. Schließlich, nach
Wochen täglicher Abwehr, findet man sich, obwohl noch ein wenig
verwirrt, zu sich selber zurück, und man sagt sich: Nein, es ist hier
nicht mehr Schönheit als anderswo, und alle diese von Generationen
immer weiterbewunderten Gegenstände, an denen Handlangerhände
gebessert und ergänzt haben, bedeuten nichts, sind nichts und haben
kein Herz und keinen Wert; - aber es ist viel Schönheit hier, weil
überall viel Schönheit ist. Unendlich lebensvolle Wasser gehen über
die alten Aquädukte in die große Stadt und tanzen auf den vielen
Plätzen über steinernen weißen Schalen und breiten sich aus in weiten,
geräumigen Becken und rauschen bei Tag und erheben ihr Rauschen zur
Nacht, die hier groß und gestirnt ist und weich von Winden. Und Gärten
sind hier, unvergeßliche Alleen und Treppen, Treppen, von Michelangelo
ersonnen, Treppen, die nach dem Vorbild abwärts gleitender Wasser
erbaut sind, - breit im Gefäll Stufe aus Stufe gebärend wie Welle aus
Welle. Durch solche Eindrücke sammelt man sich, gewinnt sich zurück
aus dem anspruchsvollen Vielen, das da spricht und schwätzt (und wie
gesprächig ist es!), und lernt langsam die sehr wenigen Dinge
erkennen, in denen Ewiges dauert, das man lieben, und Einsames, daran
man leise teilnehmen kann.  Noch wohne ich in der Stadt auf dem
Kapitol, nicht weit von dem schönsten Reiterbilde, das uns aus
römischer Kunst erhalten geblieben ist, - dem des Marc Aurel; aber in
einigen Wochen werde ich einen stillen schlichten Raum beziehen, einen
alten Altan, der ganz tief in einem großen Park verloren liegt, der
Stadt, ihrem Geräusch und Zufall verborgen. Dort werde ich den ganzen
Winter wohnen und mich freuen an der großen Stille, von der ich das
Geschenk guter und tüchtiger Stunden erwarte...  Von dort aus, wo ich
mehr zu Hause sein werde, schreibe ich Ihnen einen größeren Brief,
darin auch noch von Ihrem Schreiben die Rede sein wird. Heute muß ich
Ihnen nur sagen (und vielleicht ist es unrecht, daß ich dies nicht
schon früher getan habe), daß das in Ihrem Briefe angekündigte Buch
(welches Arbeiten von Ihnen enthalten sollte) nicht hier eingetroffen
ist. Ist es an Sie zurückgegangen, vielleicht von Worpswede aus?
(Denn: man darf Pakete ins Ausland nicht nachsenden.) Diese
Möglichkeit ist die günstigste, die ich gern bestätigt
wüßte. Hoffentlich hadelt es sich nicht um einen Verlust, - der ja bei
italienischen Postverhältnissen nicht zu den Ausnahmen gehört -
leider.  Ich hätte auch dieses Buch (wie alles, was ein Zeichen von
Ihnen gibt) gern empfangen; und Verse, die inzwischen entstanden sind,
werde ich immer (wenn Sie mir sie anvertrauen) lesen und wieder lesen
und erleben, so gut und so herzlich ich kann. Mit Wünschen und Grüßen

Ihr:
Rainer Maria Rilke

About the headline (FAQ)

Text Authorship:

  • by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), no title, written 1903, Brief an Franz Xaver Kappus (V) [author's text checked 1 time against a primary source]

Musical settings (art songs, Lieder, mélodies, (etc.), choral pieces, and other vocal works set to this text), listed by composer (not necessarily exhaustive):

    [ None yet in the database ]

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  • Also set in Italian (Italiano), a translation by Anonymous/Unidentified Artist [an adaptation] ; composed by Salvatore Sciarrino.
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Researcher for this text: Emily Ezust [Administrator]

This text was added to the website: 2023-07-28
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