by Heinrich Heine (1797 - 1856)
Mir lodert und wogt im Hirn eine Flut
Language: German (Deutsch)
Mir lodert und wogt im Hirn eine Flut Von Wäldern, Bergen und Fluren; Aus dem tollen Wust tritt endlich hervor Ein Bild mit festen Konturen. Das Städtchen, das mir im Sinne schwebt, Ist Godesberg, ich denke. Dort wieder unter dem Lindenbaum Sitz ich vor der alten Schenke. Der Hals ist mir trocken, als hätt ich verschluckt Die untergehende Sonne. Herr Wirt! Herr Wirt! Eine Flasche Wein Aus Eurer besten Tonne! Es fließt der holde Rebensaft Hinunter in meine Seele Und löscht bei dieser Gelegenheit Den Sonnenbrand der Kehle. Und noch eine Flasche, Herr Wirt! Ich trank Die erste in schnöder Zerstreuung, Ganz ohne Andacht! Mein edler Wein, Ich bitte dich drob um Verzeihung. Ich sah hinauf nach dem Drachenfels, Der, hochromantisch beschienen Vom Abendrot, sich spiegelt im Rhein Mit seinen Burgruinen. Ich horchte dem fernen Winzergesang Und dem kecken Gezwitscher der Finken - So trank ich zerstreut, und an den Wein Dacht ich nicht während dem Trinken. Jetzt aber steck ich die Nase ins Glas, Und ernsthaft zuvor beguck ich Den Wein, den ich schlucke; manchmal auch, Ganz ohne zu gucken, schluck ich. Doch sonderbar! Während dem Schlucken wird mir Zu Sinne, als ob ich verdoppelt, Ein andrer armer Schlucker sei Mit mir zusammengekoppelt. Der sieht so krank und elend aus, So bleich und abgemergelt. Gar schmerzlich verhöhnend schaut er mich an, Wodurch er mich seltsam nergelt. Der Bursche behauptet, er sei ich selbst, Wir wären nur eins, wir beide, Wir wären ein einziger armer Mensch, Der jetzt am Fieber leide. Nicht in der Schenke von Godesberg, In einer Krankenstube Des fernen Paris befänden wir uns - Du lügst, du bleicher Bube! Du lügst, ich bin so gesund und rot Wie eine blühende Rose, Auch bin ich stark, nimm dich in acht, Daß ich mich nicht erbose! Er zuckt die Achseln und seufzt: «O Narr!» Das hat meinen Zorn entzügelt; Und mit dem verdammten zweiten Ich Hab ich mich endlich geprügelt. Doch sonderbar! jedweden Puff, Den ich dem Burschen erteile, Empfinde ich am eignen Leib, Und ich schlage mir Beule auf Beule. Bei dieser fatalen Balgerei Ward wieder der Hals mir trocken, Und will ich rufen nach Wein den Wirt, Die Worte im Munde stocken. Mir schwinden die Sinne, und traumhaft hör Ich von Kataplasmen reden, Auch von der Mixtur - ein Eßlöffel voll - Zwölf Tropfen stündlich in jeden.
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Authorship:
- by Heinrich Heine (1797 - 1856), no title, appears in Nachgelesene Gedichte 1845-1856, no. 45 [author's text checked 1 time against a primary source]
Musical settings (art songs, Lieder, mélodies, (etc.), choral pieces, and other vocal works set to this text), listed by composer (not necessarily exhaustive):
- by Michael Proksch , "Mir lodert und wogt", from Genialer Künstlerschweiß, no. 27. [text not verified]
Available translations, adaptations, and transliterations (if applicable):
- ENG English (E. B. Schuldham) , title 1: "Mir lodert und wogt", from Poems Selected from Heinrich Heine, ed. by Kate Freiligrath Kroeker, London: Walter Scott, Limited, pages 268-270, published 1887
Researcher for this text: Emily Ezust [Administrator]
This text was added to the website: 2008-10-28
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