Nicht daß ein Engel eintrat (das erkenn), erschreckte sie. Sowenig andre, wenn ein Sonnenstrahl oder der Mond bei Nacht in ihrem Zimmer sich zu schaffen macht, auffahren -, pflegte sie an der Gestalt, in der ein Engel ging, sich zu entrüsten; sie ahnte kaum, daß dieser Aufenthalt mühsam für Engel ist. (O wenn wir wüßten, wie rein sie war. Hat eine Hirschkuh nicht, die, liegend, einmal sie im Wald eräugte, sich so in sie versehn, daß sich in ihr, ganz ohne Paarigen, das Einhorn zeugte, das Tier aus Licht, das reine Tier.) Nicht, daß er eintrat, aber daß er dicht, der Engel, eines Jünglings Angesicht so zu ihr neigte: daß sein Blick und der, mit dem sie aufsah, so zusammenschlugen als wäre draußen plötzlich alles leer und, was Millionen schauten, trieben, trugen, hineingedrängt in sie: nur sie und er; Schaun und Geschautes, Aug und Augenweide sonst nirgends als an dieser Stelle -: sieh, dieses erschreckt. Und sie erschracken beide. Dann sang der Engel seine Melodie.
Fünf Lieder aus dem Marienleben
Song Cycle by Kurt Rapf (1922 - 2007)
1. Mariae Verkündigung  [sung text not yet checked]
Text Authorship:
- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), "Mariae Verkündigung", appears in Das Marien-Leben, no. 3, first published 1912
See other settings of this text.
Available translations, adaptations or excerpts, and transliterations (if applicable):
- FRE French (Français) (Stéphane Goldet) (Pierre de Rosamel) , "Annonciation", copyright © 2013, (re)printed on this website with kind permission
- ITA Italian (Italiano) (Ferdinando Albeggiani) , "L'annunciazione di Maria", copyright © 2009, (re)printed on this website with kind permission
2. Mariae Heimsuchung  [sung text not yet checked]
Noch erging sie's leicht im Anbeginne, doch im Steigen manchmal ward sie schon ihres wunderbares Leibes inne, - und dann stand sie, atmend, auf den hohn Judenbergen, Aber nicht das Land, ihre Fülle war um sie gebreitet; gehend fühlte sie: man überschreitet nie die Größe, die sie jetzt empfand. Und es drängte sie, die Hand zu legen auf den andern Leib, der weiter war. Und die Frauen schwankten sich entgegen und berührten sich Gewand und Haar. Jede, voll von ihrem Heiligtume, schützte sich mit der Gevatterin. Ach der Heiland in ihr war noch Blume, doch den Täufer in dem Schooß der Muhme riß die Freude schon zum Hüpfen hin.
Text Authorship:
- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), "Mariae Heimsuchung", appears in Das Marien-Leben, no. 4, first published 1912
See other settings of this text.
Available translations, adaptations or excerpts, and transliterations (if applicable):
- FRE French (Français) (Stéphane Goldet) (Pierre de Rosamel) , "Visitation", copyright © 2013, (re)printed on this website with kind permission
- ITA Italian (Italiano) (Ferdinando Albeggiani) , "Visitazione di Maria", copyright © 2009, (re)printed on this website with kind permission
3. Geburt Christi  [sung text not yet checked]
Hättest du der Einfalt nicht, wie sollte dir geschehn, was jetzt die Nacht erhellt? Sieh, der Gott, der über Völkern grollte, macht sich mild und kommt in dir zur Welt. Hast du dir ihn größer vorgestellt? Was ist Größe? Quer durch alle Maße, die er durchstreicht, geht sein grades Los. Selbst ein Stern hat keine solche Straße. Siehst du, diese Könige sind groß, und sie schleppen dir vor deinen Schooß Schätze, die sie für die größten halten, und du staunst vielleicht bei dieser Gift -: aber schau in deines Tuches Falten, wie er jetzt schon alles übertrifft. Aller Amber, den man weit verschifft, jeder Goldschmuck und das Luftgewürze, das sich trübend in die Sinne streut: alles dieses war von rascher Kürze, und am Ende hat man es bereut. Aber (du wirst sehen): Er erfreut.
Text Authorship:
- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), "Geburt Christi", appears in Das Marien-Leben, no. 7, first published 1912
See other settings of this text.
Available translations, adaptations or excerpts, and transliterations (if applicable):
- FRE French (Français) (Stéphane Goldet) (Pierre de Rosamel) , "Naissance du Christ", copyright © 2013, (re)printed on this website with kind permission
- ITA Italian (Italiano) (Ferdinando Albeggiani) , "Nascita di Cristo", copyright © 2009, (re)printed on this website with kind permission
4. Pietà  [sung text not yet checked]
Jetzt wird mein Elend voll, und namenlos erfüllt es mich. Ich starre wie des Steins Inneres starrt. Hart wie ich bin, weiß ich nur Eins: Du wurdest groß -- . . . . . . und wurdest groß, um als zu großer Schmerz ganz über meines Herzens Fassung hinauszustehn. Jetzt liegst du quer durch meinen [Schooß, jetzt kann]1 ich dich nicht mehr gebären.
Text Authorship:
- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), "Pietà", appears in Das Marien-Leben, no. 11, first published 1912
See other settings of this text.
Available translations, adaptations or excerpts, and transliterations (if applicable):
- ENG English (Sharon Krebs) , copyright © 2024, (re)printed on this website with kind permission
- FRE French (Français) (Stéphane Goldet) (Pierre de Rosamel) , "Pieta", copyright © 2013, (re)printed on this website with kind permission
- ITA Italian (Italiano) (Ferdinando Albeggiani) , "Pietà", copyright © 2009, (re)printed on this website with kind permission
Confirmed with Rainer Maria Rilke, Die Gedichte, Frankfurt am Main: Insel Verlag, 1997, page 621.
1 Burghardt: "Schoß. / Jetzt kann"Research team for this page: Emily Ezust [Administrator] , Sharon Krebs [Guest Editor]
5. Vom Tode Mariae  [sung text not yet checked]
Derselbe große Engel, welcher einst ihr der Gebärung Botschaft niederbrachte, stand da, abwartend daß sie ihn beachte, und sprach: Jetzt wird es Zeit, daß du erscheinst. Und sie erschrak wie damals und erwies sich wieder als die Magd, ihn tief bejahend. Er aber strahlte und, unendlich nahend, schwand er wie in ihr Angesicht - und hieß die weithin ausgegangenen Bekehrer zusammenkommen in das Haus am Hang, das Haus des Abendmahls. Sie kamen schwerer und traten bange ein: Da lag, entlang die schmale Bettstatt, die in Untergang und Auserwählung rätselhaft Getauchte, ganz unversehrt, wie eine Ungebrauchte, und achtete auf englischen Gesang. Nun da sie alle hinter ihren Kerzen abwarten sah, riß sie vom Übermaß der Stimmen sich und schenkte noch von Herzen die beiden Kleider fort, die sie besaß, und hob ihr Antlitz auf zu dem und dem... (O Ursprung namenloser Tränen-Bäche). Sie aber legte sich in ihre Schwäche und zog die Himmel an Jerusalem so nah heran, daß ihre Seele nur, austretend, sich ein wenig strecken mußte: schon hob er sie, der alles von ihr wußte, hinein in ihre göttliche Natur.
Text Authorship:
- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), no title, appears in Das Marien-Leben, in Vom Tode Mariae, no. 1, first published 1912
See other settings of this text.
Available translations, adaptations or excerpts, and transliterations (if applicable):
- ENG English (Knut W. Barde) , "From the Death of Mary", copyright ©, (re)printed on this website with kind permission
- FRE French (Français) (Stéphane Goldet) (Pierre de Rosamel) , "Sur la mort de Marie I", copyright © 2013, (re)printed on this website with kind permission
- ITA Italian (Italiano) (Ferdinando Albeggiani) , "Morte di Maria I", copyright © 2009, (re)printed on this website with kind permission