Nicht daß ein Engel eintrat (das erkenn), erschreckte sie. Sowenig andre, wenn ein Sonnenstrahl oder der Mond bei Nacht in ihrem Zimmer sich zu schaffen macht, auffahren -, pflegte sie an der Gestalt, in der ein Engel ging, sich zu entrüsten; sie ahnte kaum, daß dieser Aufenthalt mühsam für Engel ist. (O wenn wir wüßten, wie rein sie war. Hat eine Hirschkuh nicht, die, liegend, einmal sie im Wald eräugte, sich so in sie versehn, daß sich in ihr, ganz ohne Paarigen, das Einhorn zeugte, das Tier aus Licht, das reine Tier.) Nicht, daß er eintrat, aber daß er dicht, der Engel, eines Jünglings Angesicht so zu ihr neigte: daß sein Blick und der, mit dem sie aufsah, so zusammenschlugen als wäre draußen plötzlich alles leer und, was Millionen schauten, trieben, trugen, hineingedrängt in sie: nur sie und er; Schaun und Geschautes, Aug und Augenweide sonst nirgends als an dieser Stelle -: sieh, dieses erschreckt. Und sie erschracken beide. Dann sang der Engel seine Melodie.
Mirjam
Song Cycle by Hans Stadlmair (1929 - 2019)
1. Mariae Verkündigung  [sung text not yet checked]
Text Authorship:
- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), "Mariae Verkündigung", appears in Das Marien-Leben, no. 3, first published 1912
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- FRE French (Français) (Stéphane Goldet) (Pierre de Rosamel) , "Annonciation", copyright © 2013, (re)printed on this website with kind permission
- ITA Italian (Italiano) (Ferdinando Albeggiani) , "L'annunciazione di Maria", copyright © 2009, (re)printed on this website with kind permission
3. Argwohn Josefs  [sung text not yet checked]
Und der Engel sprach und gab sich Müh an dem Mann, der seine Fäuste ballte: Aber siehst du nicht an jeder Falte, daß sie kühl ist wie die Gottesfrüh. Doch der andre sah ihn finster an, murmelnd nur: Was hat sie so verwandelt? Doch da schrie der Engel: Zimmermann, merkst du's noch nicht, daß der Herrgott handelt? Weil du Bretter machst, in deinem Stolze, willst du wirklich den zu Rede stelln, der bescheiden aus dem gleichen Holze Blätter treiben macht und Knospen schwelln? Er begriff. Und wie er jetzt die Blicke, recht erschrocken, zu dem Engel hob, war der fort. Da schob er seine dicke Mütze langsam ab. Dann sang er lob.
Text Authorship:
- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), "Argwohn Josephs", appears in Das Marien-Leben, no. 5, first published 1912
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- ENG English (John Glenn Paton) , "Joseph's suspicion", copyright © 2011, (re)printed on this website with kind permission
- FRE French (Français) (Pierre Mathé) , "Joseph le soupçonneux", copyright © 2009, (re)printed on this website with kind permission
- FRE French (Français) (Stéphane Goldet) (Pierre de Rosamel) , "Suspicion de Joseph", copyright © 2013, (re)printed on this website with kind permission
- ITA Italian (Italiano) (Ferdinando Albeggiani) , "Il dubbio di Giuseppe", copyright © 2009, (re)printed on this website with kind permission
4. Verkündigung über die Hirten  [sung text not yet checked]
Seht auf, ihr Männer. Männer dort am Feuer, die ihr den grenzenlosen Himmel kennt, Sterndeuter, hierher! Seht, ich bin ein neuer steigender Stern. Mein ganzes Wesen brennt und strahlt so stark und ist so ungeheuer voll Licht, daß mir das tiefe Firmament nicht mehr genügt. Laßt meinen Glanz hinein in euer Dasein: Oh, die dunklen Blicke, die dunklen Herzen, nächtige Geschicke die euch erfüllen. Hirten, wie allein bin ich in euch. Auf einmal wird mir Raum. Stauntet ihr nicht: der große Brotfruchtbaum warf einen Schatten. Ja, das kam von mir. Ihr Unerschrockenen, o wüßtet ihr, wie jetzt auf eurem schauenden Gesichte die Zukunft scheint. In diesem starken Lichte wird viel geschehen. Euch vertrau ichs, denn ihr seid verschwiegen; euch Gradgläubigen redet hier alles. Glut und Regen spricht, der Vögel Zug, der Wind und was ihr seid, keins überwiegt und wächst zur Eitelkeit sich mästend an. Ihr haltet nicht die Dinge auf im Zwischenraum der Brust um sie zu quälen. So wie seine Lust durch einen Engel strömt, so treibt durch euch das Irdische. Und wenn ein Dorngesträuch aufflammte plötzlich, dürfte noch aus ihm der Ewige euch rufen, Cherubim, wenn sie geruhten neben eurer Herde einherzuschreiten, wunderten euch nicht: ihr stürztet euch auf euer Angesicht, betetet an und nenntet dies die Erde. Doch dieses war. Nun soll ein Neues sein, von dem der Erdkreis ringender sich weitet. Was ist ein Dörnicht uns: Gott fühlt sich ein in einer Jungfrau Schooß. Ich bin der Schein von ihrer Innigkeit, der euch geleitet.
Text Authorship:
- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), "Verkündigung über den Hirten", appears in Das Marien-Leben, no. 6, first published 1912
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- FRE French (Français) (Stéphane Goldet) (Pierre de Rosamel) , "Annonce faite aux bergers", copyright © 2013, (re)printed on this website with kind permission
- ITA Italian (Italiano) (Ferdinando Albeggiani) , "L'annunciazione ai pastori", copyright © 2009, (re)printed on this website with kind permission
5. Geburt Christi  [sung text not yet checked]
Hättest du der Einfalt nicht, wie sollte dir geschehn, was jetzt die Nacht erhellt? Sieh, der Gott, der über Völkern grollte, macht sich mild und kommt in dir zur Welt. Hast du dir ihn größer vorgestellt? Was ist Größe? Quer durch alle Maße, die er durchstreicht, geht sein grades Los. Selbst ein Stern hat keine solche Straße. Siehst du, diese Könige sind groß, und sie schleppen dir vor deinen Schooß Schätze, die sie für die größten halten, und du staunst vielleicht bei dieser Gift -: aber schau in deines Tuches Falten, wie er jetzt schon alles übertrifft. Aller Amber, den man weit verschifft, jeder Goldschmuck und das Luftgewürze, das sich trübend in die Sinne streut: alles dieses war von rascher Kürze, und am Ende hat man es bereut. Aber (du wirst sehen): Er erfreut.
Text Authorship:
- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), "Geburt Christi", appears in Das Marien-Leben, no. 7, first published 1912
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- FRE French (Français) (Stéphane Goldet) (Pierre de Rosamel) , "Naissance du Christ", copyright © 2013, (re)printed on this website with kind permission
- ITA Italian (Italiano) (Ferdinando Albeggiani) , "Nascita di Cristo", copyright © 2009, (re)printed on this website with kind permission
6. Rast auf der Flucht nach Aegypten  [sung text not yet checked]
Diese, die noch eben atemlos flohen mitten aus dem Kindermorden: o wie waren sie unmerklich groß über ihrer Wanderschaft geworden. Kaum noch daß im scheuen Rückwärtsschauen ihres Schreckens Not zergangen war, und schon brachten sie auf ihrem grauen Maultier ganze Städte in Gefahr: denn so wie sie, klein im großen Land, - fast ein Nichts - den starken Tempeln nahten, platzten alle Götzen wie verraten und verloren völlig den Verstand. Ist es denkbar, daß von ihrem Gange alles so verzweifelt sich erbost? und sie wurden vor sich selber bange, nur das Kind war namenlos getrost. Immerhin, sie mußten sich darüber eine Weile setzen. Doch da ging - sieh: der Baum, der still sie überhing, wie ein Dienender zu ihnen über: er verneigte sich. Derselbe Baum, dessen Kränze toten Pharaonen für das Ewige die Stirnen schonen, neigte sich. Er fühlte neue Kronen blühen. Und sie saßen wie im Traum.
Text Authorship:
- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), "Rast auf der Flucht nach Ägypten", appears in Das Marien-Leben, no. 8, first published 1912
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- FRE French (Français) (Stéphane Goldet) (Pierre de Rosamel) , "Repos pendant la fuite en Egypte", copyright © 2013, (re)printed on this website with kind permission
- ITA Italian (Italiano) (Ferdinando Albeggiani) , "Sosta durante la fuga in Egitto", copyright © 2009, (re)printed on this website with kind permission