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Die Rückkehr des verlorenen Sohnes

Oratorio by Hermann Reutter (1900 - 1985)

1. Der verlorene Sohn  [sung text not yet checked]

Language: German (Deutsch) 
Wenn der verlorene Sohn, nach einer langen Abwesenheit 
und wie am Ende seiner Neigung zu
sich selbst, auf dem Grunde dieser Entbehrnis, die
er suchte, an das Antlitz seines Vaters denkt,
an das nicht beengte Zimmer, wo seine Mutter
sich über sein Bett beugte, an den Garten, getränkt
von fließendem Wasser, aber umschlossen, und aus
dem zu entweichen er immer begierig war, an den
sparsamen älteren Bruder, den er nie geliebt hat,
der aber, abwartend, noch den Teil seiner Güter
zurückhält, den er, im Verschwenden, nicht los
werden konnte -- :
So gesteht sich der Sohn, daß er das Glück nicht
gefunden hat, ja, daß er nicht einmal imstande
war, jene Trunkenheit lange auszudehnen, die er
an Glückes Statt suchte. Ah, denkt er, wenn mein
Vater, erst so gereizt gegen mich, mich tot geglaubt
hat, vielleicht; trotz meiner Sünde, wär er froh,
mich wiederzusehn ; ah, zurückkehrend zu ihm,
ganz unterwürfig, die Stirne gesenkt und Asche
darauf, wenn ich, mich beugend vor ihm, sagte :
     „ Mein Vater, ich habe gesündigt wider den Himmel und wider dich “, 
was würde ich tun, wenn er
dann, mit der Hand mich aufhebend, antwortete :
     ,,Tritt ein in das Haus, mein Sohn “ ? -- Und schon,
andächtig, macht der Sohn sich auf.
Da die Hügel fort sind, und er endlich Rauch
von den Dächern des Hauses sieht, ist es Abend.
Aber er erwartet die Schatten der Nacht, daß sie
ein wenig sein Elend verschleiern. Er hört in der
Ferne die Stimme seinesVaters ; seine Kniee geben
nach. Er fällt und bedeckt mit den Händen sein
Gesicht, denn er schämt sich für seine Scham, im
Bewußtsein, der rechtmäßige Sohn zu sein, trotzdem. 
Er hat Hunger ; und hat höchstens in einer
Falte seines zerschlissenen Mantels eine Handvoll
süßer Eicheln, solche, wie sie ihm zur Nahrung
wurden, genau wie den Schweinen, die er hütete.
Er erkennt die Vorbereitungen zum Abendessen.
Er unterscheidet seine Mutter, wie sie heraustritt
auf den Vorplatz ... es hält ihn nicht länger, 
laufend stürzt er den Hügel hinab, tritt in den Hof,
angebellt von seinem Hund, der ihn nicht erkennt. 
Er will zu den Leuten sprechen, die aber
ziehn sich mißtrauisch zurück, gehn dem Herrn sagen ...
Kein Zweifel, er hat den verlorenen Sohn erwartet, 
denn er erkennt ihn sofort. Seine Arme
öffnen sich ; da kniet sich das Kind vor ihm hin
und verbirgt mit dem einen Arm seine Stirn und schreit zu ihm und hebt, 
auf die Verzeihung zu,
die rechte Hand empor :
     „ Mein Vater! Mein Vater, ich habe mich schwer
vergangen gegen den Himmel und gegen dich. Ich
bin nicht mehr würdig, daß du mich beim Namen
nennest; aberwenigstens, als deiner Knechte einen,
den letzten, in einem Winkel unseres Hauses, laß
mich leben ... “
Der Vater hebt ihn auf und faßt ihn fest :
     „ Mein Sohn! Mein Sohn ! Sei der Tag gesegnet,
da du mir wiederkehrst ! “ 
Und seine Freude, aus
dem Herzen überfließend, weint. Erhebt das Haupt
von der Stirn seines Sohns, der geküßten, 
und wendet sich an die Leute:
     ,, Bringt das schönste Kleid, tut ihm Schuhe an
seine Füße und einen kostbaren Ring an seinen
Finger. Sucht in den Ställen das fetteste Kalb aus
und tötet es. Richtet ein Freudenfest, denn der
Sohn, den ich totgesagt habe, lebt. “
Und wie die Nachricht schon herumkommt,
läuft er. Er will nicht zugeben, daß ein anderer sage:
     ,, Mutter, der Sohn, um den wir weinten, ist uns
wiedergegeben. “
Die allgemeine Freude wird zur Sorge für den
ältesten Sohn. Wenn er sich wirklich an den gemeinsamen Tisch setzt, 
so geschiehts auf die Aufforderung des Vaters hin, gedrängt von ihm, 
fast gezwungen. Er allein unter allen Tischgenossen
(denn bis zum Geringsten, alle sind geladen) trägt
Zorn zur Schau auf seiner Stirn : Warum für den
reuigen Sünder mehr Ehre als für ihn, der nie gesündigt hat? 
Er hält von geregelter Ordnung mehr
als von der Liebe. Sein Erscheinen beim Fest will
nur sagen, daß er dem Bruder Kredit gibt und ihm
Freude borgt für einen Abend; auch haben Vater
und Mutter ihm versprochen, dem Ausbund morgen ins Gewissen zu reden, 
und er selbst ist entschlossen, ihn strenge vorzunehmen.
Das Mahl ist zu Ende. Die Leute haben abgeräumt. 
Und jetzt in der Nacht, in der nicht ein
Hauch sich rührt, wird das müde Haus schlafen.

Text Authorship:

  • by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), "Der verlorene Sohn", written 1912, appears in Die Rückkehr des verlorenen Sohnes, no. 1

Based on:

  • a text in French (Français) by André Gide (1869 - 1951), "L'Enfant Prodigue", appears in Le Retour de l'enfant prodigue, no. 1, first published 1907
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Confirmed with Rainer Maria Rilke, Übertragungen, Insel-verlag, 1927


Researcher for this page: Joost van der Linden [Guest Editor]

2. Der Verweis des Vaters  [sung text not yet checked]

Language: German (Deutsch) 
Mein Gott, wie ein Kind knie ich heute vor dir,
das Gesicht triefend von Tränen. Ich besänne mich
nicht auf dein dringendes Gleichnis und schriebe
es nicht hier auf, wenn ich nicht wüßte, wer dein
verlorener Sohn war ; wenn ich mich nicht sähe
in ihm ; wenn ich die Worte nicht manchmal in
mir hörte und sie heimlich wiederholte, diese
Worte, die du ihn schreien läßt aus der Tiefe seiner
großen Not:
     „ Wieviel Tagelöhner meines Vaters haben bei
ihm Brot im Überfluß, und ich sterbe vor Hunger! “
Ich stelle mir vor, wie die Umarmung des Vaters ist ; 
an der Wärme einer solchen Liebe löst
sich mein Herz. Ich stelle mir die Not vor vorher,
ja, ich bin bereit, mir vorzustellen, was es auch sei,
ich glaube es ; ich fühle es ; ich bin es selbst, 
dessen Herz aufschlägt, wenn die Hügel fort sind
und er die blauen Dächer sieht des Hauses, das er
verlassen hat. Auf was wart ich denn? Was stürz
ich nicht zu der Wohnung hin ? Was tret ich nicht
ein ? Man erwartet mich. Ich sehe schon, wie man
das gemästete Kalb zubereitet ... Halt! Rüstet
nicht zu rasch das Fest ! Verlorener Sohn, ich
denke an dich. Sag mir vorerst, was dir der Vater
gesagt hat, am anderen Tag, nach der Feier des
Wiedersehens. Ah, wenn auch der älteste Sohn
einflüstert, dürfte ich doch dann und wann deine
Stimme hören, Vater, durch seine Worte.
     „ Mein Sohn, warum hast du mich verlassen? “
Hab ich dich wirklich verlassen ? Vater, bist du
nicht überall ? Ich habe nie aufgehört, dich zu
lieben. “
     „ Streiten wir nicht um Worte. Ich hatte ein
Haus, das dich einschloß. Es war aufgerichtet um
deinetwillen. Damit deine Seele darin eine Unterkunft hätte, 
eine ihrer würdigeVerwöhnung, einen
Beistand, einen Dienst : haben ganze Geschlechter
gearbeitet. Du, der Erbe, der Sohn, bist aus dem
Hause entwichen, warum ? “
", Weil das Haus mich einschloß. Das Haus, das
bist nicht du, mein Vater. “
     „ Ich habe es erbaut, für dich erbaut. “
     „ Ah, das hast du nicht gesagt. Das sagt mein
Bruder. Du, du hast die ganze Erde erbaut, das
Haus und was außer dem Hause ist. Das Haus
haben andere gebaut als du ; in deinem Namen,
ich weiß, aber andere als du. “
     „ Der Mensch bedarf eines Daches, unter dem
er sein Haupt ruhe. Hochmütiger ! Meinst du, du
kannst bei den Winden schlafen ? “
     „ Gehört dazu soviel Hochmut? Ärmere als ich
haben das getan. “
     „ Das sind die Armen. Arm bist du nicht. 
Niemand kann seinem Reichtum absagen. 
Ich habe dich reich gemacht unter allen. “
     „ Mein Vater, du weißt wohl, da ich fortging,
nahm ich von meinen Reichtümern mit, was sich
mitnehmen ließ. Was kümmern mich die Güter,
die man nicht mit sich tragen kann? “
     „ Dieses ganze Vermögen hast du unsinnig vergeudet. “
     „ Ich habe dein Gold in Ergötzen umgewechselt,
deine Maßregeln ins Spielende, meine Keuschheit
in Singen und mein strenges Leben in Sehnsucht. “
     „ Dafür also waren deine Eltern haushälterisch
und strengten sich an, in dir lauter Tugend auszubilden ? “
     „ Ja, daẞichmit umso schönerer Flammebrenne,
wenn etwa eine neue Inbrunst mich entzünden
kommt. “
     „ Denk an die reine Flamme, die Moses sah im
geheiligten Busch ; sie strahlte, aber ohne zu verzehren. “
     „ Ich habe die Liebe kennengelernt, die verzehrt. “
     „ Die Liebe, die ich dich lehren will, ist Erquickung. 
Da die kurze Zeit um war, was ist dir, verlorener Sohn, geblieben ? “
     „ Die Erinnerung an jene Genüsse. “
     „ Und die Leere, die ihnen nachfolgt. “
     „ In dieser Leere hab ich mich dir nah gefühlt,
Vater. “
     „ Mußte das Elend kommen, dich zu mir zurückzutreiben ? “
     „ Ich weiß nicht ; ich weiß nicht. In der Dürre
der Wüste liebte ich am meisten meinen Durst. “
     „ Dein Elend ließ dich besser den Preis deiner
Reichtümer fühlen. “
     „ Nein, nicht das. Verstehst du mich nicht, mein
Vater? Mein Herz, leer von allem, füllte sich mit
Liebe an. Um den Preis aller meiner Güter hatte
ich die Inbrunst erkauft. “
     „ Du warst also glücklich fern von mir? “
     „ Ich fühlte mich dir nicht fern. “
     „ Was hat dann bewirkt, daß du wiederkamst? Sprich. “
     „ Ich weiß nicht. Die Trägheit vielleicht. “
     „ Die Trägheit, mein Sohn ! Was du sagst ! Nicht die Liebe? “
     „ Vater, ich habe es dir gesagt, ich liebte dich
niemals mehr als in der Wüste. Aber ich war es
müde, meinem Unterhalt nachzugehen, jeden
Morgen. Man iẞt gut in dem Hause. “
     „ Ja, da sorgen die Leute dafür. So ist es also der
Hunger, der dich zurückgeführt hat ? “
     „ Vielleicht auch Feigheit, Krankheit ... Auf
die Dauer schwächte mich diese Nahrung, die der
Zufall mir bot, denn ich nährte mich von wilden
Früchten und Heuschrecken und Honig. Immer
schlechter ertrug ich die Beschwerlichkeiten, die
zuerst nur dazu gemacht schienen, mich anzueifern. 
Nachts, wenn mich fror, dachte ich an mein
Bett bei meinem Vater, wie sorgfältig seine Decken
eingesteckt waren. Wenn ich fasten mußte, so fiel
mir ein, wie sehr bei meinem Vater immer die
Fülle der aufgetragenen Gerichte meinen Hunger
übertraf. Ich habe nachgegeben. Ich hatte nicht
den Mut, länger zu kämpfen, nicht die Kraft. Und
doch ... “
     „ Das gemästete Kalb gestern hat dir also geschmeckt? “
Der verlorene Sohn wirft sich schluchzend hin,
das Antlitz an der Erde:
     „ Mein Vater, mein Vater, der wilde Geschmack
der süßen Eicheln bleibt trotzdem in meinem
Mund; nichts kann ihn auflösen , daß ich ihn nicht
schmecke. “
     „ Armes Kind!" erwidert der Vater und hebt ihn
auf, „ ich habe vielleicht hart zu dir gesprochen.
Dein Bruder hat es so gewollt ; hier macht er das
Gesetz. Er hat mir nicht Ruhe gelassen, daß ich
dir sage: Außerhalb des Hauses ist kein Wohler-
gehn für dich. Aber hör mich an: Ich, ich habe
dich geschaffen ; alles was in dir ist, ich weiß es.
Ich weiß, was dich trieb auf deinen Wegen, und
ich wartete auf dich an ihrem Ausgang. Hättest
du mich gerufen – ich war da. “
     „ Mein Vater, so hätte ich dich wiederhaben
können, ohne umzukehren? “
     „ Wenn du dich schwach gefühlt hast, so hast
du gutgetan, umzukehren. Geh jetzt. Geh in die
Kammer, die ich dir habe bereiten lassen. Genug
für heute ; ruh dich aus ; morgen kannst du mit
deinem Bruder reden. “

Text Authorship:

  • by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), "Der Verweis des Vaters", written 1912, appears in Die Rückkehr des verlorenen Sohnes, no. 2

Based on:

  • a text in French (Français) by André Gide (1869 - 1951), "La Réprimande du Père", appears in Le Retour de l'enfant prodigue, no. 2, first published 1907
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Confirmed with Rainer Maria Rilke, Übertragungen, Insel-verlag, 1927, p.156


Researcher for this page: Joost van der Linden [Guest Editor]

3. Der Verweis des älteren Bruders  [sung text not yet checked]

Language: German (Deutsch) 
Der verlorene Sohn versucht zuerst, ihn von oben
herab zu nehmen.
     „ Mein großer Bruder, “ beginnt er, „ wir haben
nicht viel Ähnlichkeit miteinander. Wir sind uns
gar nicht ähnlich, mein Bruder. “
     „ Das ist dein Fehler. “
     „ Weshalb meiner? “
     „ Weil ich in der Ordnung bin ; alles was sich
von ihr abhebt, ist Frucht und Same des Hochmuts. “
     „ Müssen es durchaus Fehler sein, was sich abhebt bei mir? “
     „ Du solltest gute Eigenschaften nur die nennen, 
die dich zur Ordnung führen ; was den Rest 
angeht, so mußt du ihn bezwingen. “
     „ Gerade diese Verstümmelung fürchte ich. Auch
das, was du unterdrückt haben willst, kommt vom
Vater. “
     „ Nein, nicht unterdrückt , bezwungen , sagte ich. “
     „ Ich versteh dich schon. Auf diese Weise habe
ich eben meine guten Seiten bezwungen. “
     „ Und darum finde ich sie auch jetzt wieder.
Du mußt sie in die Höhe treiben. Versteh mich
recht: was ich dir da vorschlage, ist keine Herabsetzung, 
sondern eine Steigerung deiner selbst, zu
der die verschiedenartigsten 
und ununterworfensten Elemente deines Fleisches und deines Geistes
ingroßen Einklängen zusammenwirken sollen, eine Steigerung, 
in der das Ärgste, was in dir steckt, Nährstoff liefert für das Beste, 
und das Beste selbst abhängig sein soll von dem ... “
     „ Eine Steigerung ist auch das, was ich suchte
und in der Wüste fand - vielleicht nicht einmal
sehr verschieden von der, die du mir vorschlägst. “
     „ Die ich dir, offengestanden, vorschreiben
möchte. “
     „ Unser Vater hat nicht mit solcher Härte gesprochen. “
     „ Ich weiß nicht, was der Vater dir gesagt hat.
Etwas Vages. Er drückt sich nicht sehr klar aus ;
man kann ihm in den Mund legen, was einem
beliebt. Ich aber, ich kenne seine Gedanken wohl.
Bei den Leuten hier bleibe ich immer der einzige,
der sie auszulegen weiß, und wer den Vater verstehen will, 
hat auf mich zu hören. "
     „ Ich verstand ihn sehr leicht ohne dich. “
     „ Das schien dir so. Aber du hast falsch verstanden. 
Es gibt nicht mehrere Arten, den Vater zu verstehn ; 
es gibt nicht mehrere Arten , ihn zu
hören ; es gibt nicht mehrere Arten, ihn zu lieben; 
auf daß wir Eines seien in seiner Liebe. “
     „ In seinem Hause. “
     „ Diese Liebe führt dahin zurück. Das kannst
du wohl sehen, da du wieder hier bist. Jetzt sage
mir, was hat dich damals hinausgetrieben? “
     „ Ich fühlte zu stark, daß das Haus nicht das
Weltall ist. Ich selbst, ich bin ja nicht völlig in
dem, was ich, nach deinem Willen, zu sein habe.
Ob ich wollte oder nicht, ich sah andere Kulturen
vor mir, andere Länder ; und Wege, die man wandern konnte, 
noch gar nicht vorhandene Wege.
Ich begriff das neue Wesen in mir und spürte, wie
es dorthin stürzte. Da brach ich aus. “
     „ Denk, was geworden wäre, wenn ich, wie du,
das Haus des Vaters verlassen hätte. 
Die Dienstleute und Räuber hätten unser Hab und Gut geplündert. “
     „ Was lag mir damals daran. Ich hatte andere
Güter im Sinn ... “
     „ Die dir dein Hochmut herrlich ausmalte. Mein
Bruder! Die Zuchtlosigkeit liegt hinter uns. 
Aus welchem Chaos der Mensch hervorgegangen ist,
das wirst du erfahren, wenn du es noch nicht weißt.
Er ist schlecht daraus hervorgegangen ; mit dem
ganzen Gewicht seiner Einfalt fällt er hinein zurück, 
wenn ihn der Geist nicht oben hält. Sieh zu,
daß du's lernst, ohne es teuer zu bezahlen : 
die geordneten Elemente, aus denen du bestehst, warten
nur auf eine Einwilligung deinerseits, auf dein
Schwachwerden, um in Anarchie zurückzutaumeln... 
Schwerlich wirst du je wissen, welche Zeit
es gebraucht hat, bis der Mensch den Menschen
fertigbrachte. Jetzt, da eine Norm erreicht ist,
halten wir uns daran. , Halte fest, was du hast ‘ ,
spricht der Geist zum Engel der Kirche, und er
fügt hinzu : , damit niemand deine Krone nehme. “
Was du hast, das ist deine Krone, 
diese Königsgewalt über die anderen und über dich selbst. 
Deine Krone, der Thronräuber lauert aufsie ; er ist überall. 
Er streift herum um dich und in dir. Halt fest, mein Bruder, halt fest. “
     „ Ich bin seit zu lange gewohnt, loszulassen ; 
ich kann die Hand nicht mehr schließen um mein Gut. “
     „ Doch, doch. Ich werde dir helfen. Ich habe,
während du fort warst, über dein Gut gewacht. “
     „ Und dann, dieses Wort des Geistes, ich kenne
es. Du hast es nicht ganz angeführt. “
     „ In der Tat, es heißt weiter : , Wer überwindet, 
den will ich machen zum Pfeiler in dem Tempel meines Gottes 
und soll nicht mehr hinausgehn.‘  “
     „ , Und soll nicht mehr hinausgehn. ‘ Davor gerade habe ich Angst. “
     „ Wenn es zu seinem Glück ist. “
     „ O, ich verstehe wohl. Aber in diesem Tempel
war ich ... “
     „ Und es hat dir nicht gutgetan, draußen zu
sein, da du dich entschlossen hast, wieder einzutreten. “
     „ Ich weiß; ich weiß. Ich bin zurück. Das kann ich nicht leugnen. “
     „ Welches Gut könntest du auch anderwärts
suchen, das du hier nicht in Fülle fändest? Oder
besser : hier und nirgends sonst sind alle deine
Güter. “
     „ Ich weiß, du hast mir Schätze aufbewahrt. “
     „ Das, was duvon deinen Gütern nichtverschleudert hast, 
das heißt denjenigen Teil, der uns allen gemeinsam zukommt: 
den Grundbesitz. “
     „ So gehört mir nichts mehr zu eigen ? “
     „ Doch ; ein besonderer Anteil an den Schenkungen, 
den unser Vater dir möglicherweise zuerkennt. “
     „ Daran allein ist mir gelegen. Es ist mir recht,
nichts zu besitzen als dies. “
     „ Hochmütiger ! Man wird dich nicht fragen.
Unter uns gesagt, dieser Anteil ist Glückssache;
ich rate dir, lieber darauf zu verzichten. 
Schon einmal hat ein solcher Anteil 
an persönlichen Schenkungen dir Unheil gebracht. 
Das sind ja doch die Güter, die du auf der Stelle verschleuderst. “
     „ Die andern konnte ich ja nicht mit mir nehmen. “
     „ So wirst du sie auch unberührt wiederfinden.
Genug für heute. Füg dich in die Ruhe des Hauses. “
     „ Gern, weil ich müde bin. “
     „ So sei deine Müdigkeit gesegnet. Schlafe jetzt.
Morgen wird deine Mutter mit dir reden. “

Text Authorship:

  • by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), "Der Verweis des älteren Bruders", written 1912, appears in Die Rückkehr des verlorenen Sohnes, no. 3

Based on:

  • a text in French (Français) by André Gide (1869 - 1951), "La Réprimande du Frère Aîné", appears in Le Retour de l'enfant prodigue, no. 3, first published 1907
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Confirmed with Rainer Maria Rilke, Übertragungen, Insel-verlag, 1927, p.162. Note: Reutter's setting begins "Jetzt sage mir, was hat dich damals hinausgetrieben?"


Researcher for this page: Joost van der Linden [Guest Editor]

4. Die Mutter  [sung text not yet checked]

Language: German (Deutsch) 
Sohn, verlorener, der sich im Geiste noch sträubt
gegen die Reden des Bruders, laß nun dein Herz
sprechen. Wie tut es dir gut, während deine Mutter dasitzt, 
halb liegend zu ihren Füßen, die Stirn
zu verstecken an ihren Knieen und zu fühlen, wie
unter ihrer Hand dein aufgelehnter Nacken nachgibt.
     „ Warum hast du mich so lange verlassen?”
     Und da du keine Antwort hast, als Tränen:
     „ Warum jetzt weinen, mein Sohn? Du bist mir
wiedergegeben. Ich habe im Warten auf dich alle
meine Tränen ausgegossen. “
     „ Du hast mich noch erwartet?”
     „ Ich habe nie aufgehört, auf dich zu hoffen.
Jeden Abend, vor dem Einschlafen, dachte ich:
Wenn er diese Nacht kommt, wird er wissen, wie
man die Türe öffnet ? Und es dauerte, eh ich einschlief. 
Jeden Morgen, bevor ich noch ganz wach
war, dachte ich : Kommt er nicht heute? Und dann
betete ich ; ich habe soviel gebetet, schließlich
mußtest du wohl kommen.”
     „Deine Gebete sind schuld an meiner Rückkehr.”
     „ Lächle nicht über mich, mein Kind. “
     „O Mutter, ich komme zu dir ganz demütig.
Sieh, meine Stirn ist niedriger als dein Herz. Keiner
meinergestrigen Gedanken, der heute nicht nichtig
würde. Bei dir begreif ich kaum noch, warum ich
aus dem Hause fortgegangen bin. “
     „ Du gehst nicht wieder fort? “
     „ Ich kann nicht mehr fortgehn. “
     „ Was hat dich denn nur da draußen angezogen? “
     „ Ich will nicht mehr daran denken. Nichts ...
Ich selbst. “
     „ Hast du denn gedacht, du könntest fern von uns glücklich sein ?”
     „ Ich suchte nicht das Glück. “
     „ Was suchtest du? “
     „ Ich suchte ... wer ich war. “
     „ O Sohn deiner Eltern, Bruder unter deinen Brüdern. “
     „ Ich hatte nichts mit meinen Brüdern gemein.
Sprechen wir nicht davon. Hier bin ich wieder. “
     „ Doch, laß uns noch sprechen : glaube nicht,
daß deine Brüder so verschieden sind von dir. “
     „ Von nun an wird es meine einzige Sorge sein,
euch allen zu gleichen .
     „ Du sagst das, als gäbest du damit alles auf. “
     „ Nichts macht mehr müde, als das durchzusetzen, 
worin man anders ist. Diese Reise hat mich
am Ende ganz erschöpft. “
     „ Das ist wahr, du bist förmlich gealtert. “
     „ Ich habe gelitten. “
     „ Mein armes Kind! Dein Bett war gewiß nicht
gemachtjeden Abend, und dein Tisch nicht immer
gedeckt für die Mahlzeiten. “
     „ Ich aẞ, was ich fand, und das waren oft nur
grüne oder verdorbene Früchte, die sich mein
Hunger irgendwie nahrhaft machte. “
     „ Hast du wenigstens nur Hunger gelitten? “
     „ Die Sonne mitten am Tag, der kalte Wind
vom Herzen der Nacht her, die Wüste mit ihrem
wechselnden Sand, das Gestrüpp, an dem ich mir
die Füße blutig riẞ nichts von alledem konnte
mich aufhalten, aber meinem Bruder hab ichs
nicht gesagt ich mußte dienen ... ”
     „ Warum hast du's verschwiegen ? ”
Böse Herren sind mit meinem Stolz fertig geworden; 
sie mißhandelten meinen Körper und
gaben mir kaum satt zu essen. Da dacht ich schließlich : 
Wenn ich doch einmal dienen soll ...
Im Traum sah ich das Haus : und kam zurück. “
Der verlorene Sohn senkt wieder seine Stirn, 
die die Mutter sanft streichelt.
     „ Was wirst du jetzt tun? “
     „ Ich habe es dir gesagt : mir Mühgeben, meinem
großen Bruder ähnlich zu werden ; unsere Güter
verwalten ; eine Frau nehmen, wie er. “
     „ Sicher denkst du an jemanden, wenn du das sagst. “
     „ Einerlei, wenn du erst eine gewählt hast, so
wird sie es auch sein. Tu, wie du's für meinen
Bruder getan hast. “
     „ Ich hätte sie gerne nach deinem Herzen gewählt. “
     „ Was liegt daran. Mein Herz hat ja seine Wahl
gehabt. Ich entsage einem Stolz, der mich so weit
von dir weggeführt hat. Leite meine EntschlieBung. 
Ich unterwerfe mich, sage ich dir. Auch
meine Kinder werden dir genau so unterworfen
sein; so wird mir, was ich da unternehme, 
wenigstens nicht ganz umsonst scheinen. “
     „ Höre. Es ist schon ein Kind da, dessen du dich
annehmen könntest. “
     „ Was willst du sagen ? Von wem sprichst du? “
     „ Von deinem jüngeren Bruder. Als du fortgingst, 
war er noch nicht zehn Jahre ; du hast ihn
kaum wiedererkannt, und doch er ... “
     „ Sprich zu Ende, Mutter. Welchen Grund hast
du jetzt, unruhig zu sein ? “
     „ In ihm hättest du dich eigentlich erkennen
müssen, denn er gleicht ganz dem, der du warst,
als du weggingst. “
     „ Gleicht mir?”
     „ Dem, der du warst, sag ich, leider noch nicht
dem, der du geworden bist. “
     „ Und der er werden wird. “
     „ Man muß ihn dazu machen, so bald als möglich . Sprich mit ihm ; 
auf dich wird er gewiß hören,
auf den Verlorenen. Beschreib ihm die Ermüdung
unterwegs. Erspar ihm ... “
     „ Aber was ängstigt dich denn so an meinem
Bruder ? Vielleicht einfach etwas Verwandtes in
seinen Zügen...”
     „ Nein, nein ; die Ähnlichkeit zwischen euch
beiden geht tiefer. An ihm beunruhigt mich jetzt
das, was mich zuerst, an dir, nicht genügend beunruhigt hat. 
Er liest zu viel, und das sind nicht
immer die guten Bücher, die er bevorzugt. “
     „ Weiter nichts ? “
Oft klettert er da hinauf auf die höchste Stelle
des Gartens, von wo man ins Land sieht, du weißt,
über die Mauern fort. “
     „ Ich kann mich erinnern . Ist das alles ? “
     „ Er ist viel weniger hier bei uns als auf dem Meierhof. “
     „ So! Was tut er dort? “
     „ Nichts Schlimmes. Aber er geht nicht zu den
Pächtersleuten, sondern zu dem Volk, mit dem
wir am wenigsten zu tun haben mögen, und zu
denen, die nicht von hier sind . Einer besonders ist
da, von weit her, der ihm Geschichten erzählt. “
     „ Ah, der Schweinehirt. “
     „ Ja. Du hast ihn gekannt? Um dem zuzuhören,
geht dein Bruder jeden Abend in den Schweinestall nach. 
Erst zum Essen kommt er zurück, ohne
Hunger, und die Kleider voller Geruch. Da helfen
keine Vorstellungen ; der Zwang macht ihn nur
noch eigensinniger. Manchen Morgen, bei Tagesanbruch, 
eh einer von uns auf ist, läuft er schon
hin und begleitet diesen Schweinehirten bis ans
Tor, wenn er seine Herde auf die Weide treibt. “
     „ Er weiß, weiter hinaus darf er nicht. “
     „ Du hast das auch gewußt. Eines Tages wird
er sich mir fortstehlen. Ich bin sicher. Eines Tages
wird er auf und davon gehn ... “
     „ Nein; ich will mit ihm reden, Mutter. Mach
dir keine Sorgen. “
     „ Von dir wird er sich viele Dinge sagen lassen,
das weiß ich. Hast du bemerkt, wie er dich ansah,
den ersten Abend? Was für ein Zauber ging für
ihn von deinen Lumpen aus! Und dann das purpurne Kleid, 
das dir der Vater umtat. Ich fürchtete,
das eine vermischte sich in seinem Geist ein wenig
mit dem anderen, und daß das, was ihn da zunächst anzieht, 
die Lumpen sind. Aber der Gedanke kommt mir einfach wahnsinnig vor;
denn wenn du, mein Kind, soviel Elend hättest voraussehen können, 
nicht wahr, du würdest uns nicht verlassen haben? “
     „ Ich verstehe nicht mehr, wie ich dich habe verlassen können, 
meine Mutter. “
     „ Gut, gut. Sag ihm das alles. “
     „ Alles das werd ich ihm morgen abend sagen.
Küß mich jetzt auf die Stirn, wie damals, da ich ein kleines Kind war 
und du zusahst, wie ich einschlief.  Ich bin schläfrig. “
     „ Geh schlafen. Ich werde beten für euch alle. “

Text Authorship:

  • by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), "Die Mutter", written 1912, appears in Die Rückkehr des verlorenen Sohnes, no. 4

Based on:

  • a text in French (Français) by André Gide (1869 - 1951), "La Mère", appears in Le Retour de l'enfant prodigue, no. 4, first published 1907
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Confirmed with Rainer Maria Rilke, Übertragungen, Insel-verlag , 1927. Note: Reutter's setting begins "Warum hast du mich so lange verlassen"


Researcher for this page: Joost van der Linden [Guest Editor]

5. Das Zwiegespräch mit dem jüngeren Bruder  [sung text not yet checked]

Language: German (Deutsch) 
Es ist die Kammer neben der des Verlorenen, nicht
gerade klein, mit leeren Wänden. Eine Lampe in
der Hand, nähert sich der Verlorene dem Bett, wo
sein jüngerer Bruder ruht, das Gesicht gegen die
Wand gekehrt. Er beginnt mit leiser Stimme,
um das Kind, wenn es schläft, nicht in seinem
Schlummer zu stören .
     „ Ich möchte mit dir sprechen , mein Bruder. “
     „ Was hindert dich daran ? “
     „ Ich glaubte, du schliefst. “
     „ Man braucht nicht zu schlafen, um zu träumen. “
     „ Du träumtest ; wovon denn? “
     „ Was kümmerts dich. Wenn schon ich meine
Träumenicht versteh, so wirst du, glaub ich, kaum
imstande sein, sie mir auszulegen. “
     „ Sie sind also sehr eigen. Wenn du sie mir erzählst, 
ich wills versuchen. "
     „ Kannst du dir deine Träume wählen? Die
meinen sind, was ihnen einfällt, und haben mehr
Freiheit als ich ... Was willst du übrigens hier ?
Was störst du mich in meinem Schlaf? “
     „ Du schläfst nicht, und ich komme im Guten mit dir sprechen. “
     „ Was hast du mir zu sagen ? “
     „ Nichts, wenn du diesen Ton anschlägst. “
     „ Dann leb wohl. “
     Der Verlorene geht auf die Türe zu, aber er
stellt nur die Lampe auf die Erde, die das Zimmer
so nur noch schwach erleuchtet, dann kommt er
zurück, setzt sich auf den Bettrand, im Halbdunkel, 
und streichelt lange die abgewendete Stirn des Kindes.
     „ Du antwortest mir schärfer, als ich je deinem
Bruder geantwortet habe. Und ich war doch auch
voller Widerspruch gegen ihn. “
     Das trotzige Kind hat sich heftig aufgerichtet.
     „ Sag: schickt dich unser Bruder? “
     „ Nein, mein Kleiner, nicht er, unsere Mutter. “
     „ Ah, von selbst wärst du nicht gekommen. “
     „ Aber ich komme dennoch als Freund. “
     Halb aufgesetzt in seinem Bett, starrt das Kind
den Verlorenen an.
     „ Wie brächte es einer von den Meinigen zuwege, 
mein Freund zu sein? “
     „ Du irrst dich in unserem Bruder ... “
     „ Sprich mir nicht von ihm. Ich hasse ihn ...
Von ganzem Herzen ist er mir zuwider. Er ist der
Grund, daß ich dir hart geantwortet habe. “
     „ Aber wie denn ? “
     „ Du wirst das nicht begreifen. “
     „ Trotzdem, sprich ... “
     Der Verlorene zieht den Bruder an sich und
wiegt ihn leise, und das halberwachsene Kind hält
sich nicht länger zurück :
     „ Am Abend, da du heimkehrtest, war es mir
nicht möglich zu schlafen. Die ganze Nachtdachte
ich: Ich hatte noch einen Bruder und ich wußte
es nicht... Deshalb hat mir das Herz so stark geklopft, 
als ich dich hereinkommen sah, in den Hof des Hauses, ruhmbedeckt. “
     „ Ach! bedeckt mit Lumpen, wie ich war. “
     „ Ja, ich habe dich gesehen, und doch schon
ruhmvoll. Und ich habe gesehen, was unser Vater
tat: er hat an deinen Finger einen Ring gesteckt,
einen solchen, wie ihn unser Bruder nicht besitzt.
Ich wollte niemanden über dich befragen. Ich
wußte nur, daß du von sehr weit kamst, und dein
Blick, bei Tisch ... “
     „ Warst du denn dabei? “
     „ O, ich weiß wohl, daß du mich nicht gesehen.
hast. Während des ganzen Essens war dein Blick
in der Ferne, ohne etwas zu sehen. Auch, daß du
am zweiten Abend mit dem Vater gesprochen
hast, war gut - aber am dritten ... “
     „ Sprich ... “
     „ Ach, wenn es nur ein liebes Wort gewesen
wäre, du hättest wohl kommen können und es mir
sagen. “
     „ Hast du mich denn erwartet? “
     „ Und wie! Glaubst du, ich würde unseren
Bruder so hassen, wenn du nicht an jenem Abend
so endlos mit ihm gesprochen hättest. Was könnt
ihr euch denn zu sagen gehabt haben ? Du weißt
wohl, wenn du Ähnlichkeit mit mir hast, so kannst
du mit ihm nichts gemein haben. “
     „ Ich hatte schweres Unrecht gegen ihn begangen. “
     „ Ist es möglich ? “
     „ Wenigstens gegen unseren Vater und unsere
Mutter. Du weißt, daß ich aus dem Haus geflohen war. “
     „ Ja, ich weiß. Es ist lange her, nicht wahr? “
     „ Ungefähr als ich so alt war wie du. “
     „ So. Und das nennst du dein Unrecht. “
     „ Ja, das war mein Unrecht, meine Sünde. “
     „ Als du weggingst, fühltest du da , daß du
schlecht handeltest ? “
     „ Nein; ich fühlte in mir etwas wie eine Verpflichtung, fortzugehen. “
     „ Und was ist denn seither geschehen, daß aus 
deiner Wahrheit von damals Irrtum wurde? “
     „ Ich habe gelitten. “
     „ Und deshalb sagst du: ich hatte unrecht? “
     „ Nein, nicht gerade deshalb ; aber das hat mich
zur Besinnung gebracht. “
     „ Früher also bist du nie zur Besinnung gekommen? “
     „ Doch, aber meineschwacheVernunft warnachgiebig 
gegen meine Begierden. "
     „ Wie später gegen das Leiden. So daß du heute
zurückkehrst ... überwunden. “
     „ Nein, nicht eigentlich ; - ergeben. “
     „ Mit einem Wort, du hast darauf verzichtet,
der zu sein, der du sein wolltest. “
„Der, der ich, meinem Hochmut nach, zu sein
glaubte. “
     Das Kind verharrt eine Weile schweigend, dann
schluchzt es auf und schreit :
     „ Mein Bruder, ich bin der, der du warst, als du
weggingst. O, sag: War alles Trug auf deinen
Wegen? Meine Ahnung von dem da draußen, das
anders ist als das hier, ist also nichts als Täuschung?
Was ich Neues in mir fühle-Wahnsinn? Sprich :
Was hast du denn so völlig Entmutigendes auf
deinem Weg getroffen ? Was war schuld, daß du
umkehrtest? “
     „ Die Freiheit, die ich suchte, ging mir verloren ;
einmal in Gefangenschaft, mußte ich dienen. “
     „ Ich bin hier in Gefangenschaft. “
     „ Ja, aber schlimmen Herren dienen. Hier dienst
du deinen Eltern. “
     „ Ach, dienen ist dienen ; hat man nicht wenigstens die Freiheit, 
sich seine Knechtschaft zu wählen ? “
     „ Das hoffte ich . So weit meine Füße mich
trugen, wanderte ich, auf der Suche nach meiner
Sehnsucht, wie Saul auf der Suche nach seinen
Eselinnen. Aber dort, wo ein Königreich auf ihn
wartete, dort hab ich das Elend gefunden. Und
dennoch ... “
     „ Hast du auch nicht den Weg verfehlt? “
     „ Mein Ich ging vor mir her. “
     „ Bist du sicher ? Und doch gibt es andere Königreiche 
und Länder ohne König, die noch zu entdecken sind. “
     „ Wer hat dir das gesagt? “
     „ Ich weiß es. Ich fühle es. Ich seh mich schon
dort herrschen. “
     „ Hochmütiger! “
     „ Sieh, da ist das Wort, das dir unser Bruder
gesagt hat. Wie kommst du jetzt dazu, es mir zu
sagen? Hättest du dir nur diesen Hochmut bewahrt! 
Du wärst nicht zurückgekehrt. “
     „ Dann hätte ich dich nie gekannt. “
     „ Doch, doch, dort draußen, wohin ich dir nachgekommen wäre, 
dort würdest du mich schon erkannt haben als deinen Bruder. 
Ja, mir ist noch jetzt zumut, als wärs, um dich wiederzufinden, 
daß ich fortgehe. “
     „ Daß du fortgehst? “
     „ Hast du es nicht begriffen ? Ermutigst du mich
nicht selbst, fortzugehen ? “
     „ Ich möchte dir die Rückkehr sparen ... aber
dadurch, daß ich dir den Aufbruch erspare. “
     „ Nein, nein, sag mir das nicht ; nein, das willst
du ja gar nicht sagen. Du bist doch auch nicht
wahr? -- du bist wie ein Eroberer ausgezogen? “
     „ Darum empfand ich meine Knechtschaft nur
um so härter. “
     „ Warum hast du dich dann unterworfen ? Warst
du schon müde? “
     „ Nein, noch nicht ; aber ich war im Zweifel. “
     „ Was meinst du damit? “
     „ Im Zweifel an allem, an mir selbst. Ich wollte
bleiben, mich irgendwo anschließen. Der Halt, den
mir dieser Meister versprach, war eine Versuchung
für mich. Ja, jetzt sehe ich es wohl ein : ich bin
schwach gewesen. “
     DerVerlorene neigt das Haupt und verbirgt den
Blick in seinen Händen.
     „ Aber im Anfang? “
     „ Ich war lange gewandert über die große, noch
ungebändigte Erde. “
     „ Die Wüste? “
     „ Nicht immer war es die Wüste. “
     „ Was hast du da gesucht? “
     „ Ich versteh es selber nicht mehr. “
     „ Steh auf von meinem Bett. Sieh auf den Tisch
dort hinter meinem Kissen , bei dem altmodischen
Buch. “
     „ Ich seh einen offenen Granatapfel. “
     „ Den hat mir der Schweinehirt gebracht neulich abends ; 
drei Tage war er nicht nach Haus gekommen. “
     „ Ja, das ist ein wilder Granatapfel. “
     „ Ich weiß. Er ist von einer Bitterkeit, beinah
furchtbar; und doch, ich fühle, wenn ich nur genügend Durst hätte, 
ich würde hineinbeißen. “
     „ Ah, so kann ich es dir jetzt sagen : Was ich
suchte in der Wüste, war dieser Durst. “
     „ Ein Durst, den nur diese Frucht löscht, die
ohne Süße ist ... “
     „ Nein, aber man liebt diesen Durst um ihretwillen. “
     „ Weißt du, wo man sie holt? “
     „ Ein kleiner verlassener Garten ist da; man
kommt gegen Abend hin. Keine Mauer schließt
ihn mehr ab nach der Wüste. Ein Bach floẞ dort
vorbei. Ein paar Früchte, halbreif, hingen an den
Zweigen. “
     „ Was für Früchte? “
     „ Die gleichen, wie in unserm Garten, nur wild.
Es war den ganzen Tag über sehr heiß gewesen. “
     „ Hör zu. Weißt du, warum ich dich heute abend
erwartete ? Eh die Nacht um ist, geh ich. Diese
Nacht; diese Nacht, sowie sie anfängt zu verblassen...
Mein Gürtel ist geschnallt, ich habe die Sandalen anbehalten. “
     „ Was ! Du willst tun, was ich nicht konnte? “
     „ Du hast mir den Weg aufgetan . Der Gedanke
an dich wird mir beistehn. “
     „ Ich kann dich nur bewundern. Du dagegen
mußt mich vergessen. Was nimmst du mit? “
     „ Du weißt wohl, ich, als der Jüngere, habe
keinen Anteil am Erbe. Ich gehe ohne alles. “
Besser so. “
     „ Was siehst du denn nach dem Fenster? “
     „ Den Garten seh ich, wo unsere Toten ruhen. “
     „ Mein Bruder ... (und das Kind, das vom Bett
aufgestanden ist, schmiegt den Arm um den Hals
des Verlorenen, und es legt dieselbe Zärtlichkeit
in diese Gebärde und in seine Stimme) ... komm
mit mir! “
     „ Laß mich, laß mich ; ich will bleiben und unsere
Mutter trösten. Ohne mich wirst du tapferer sein.
Es ist Zeit jetzt. Der Himmel bleicht. Geh, ohne
Lärm. Komm ! Küßmich, mein junger Bruder. Du
nimmst alle meine Hoffnungen mit dir. Sei stark.
Vergiß uns, vergiß mich. Mögst du nicht wiederkommen...
Steig leise hinab. Ich halte die Lampe. “
     „ Gib mir wenigstens noch die Hand bis an die Tür. “
     „ Achtung bei den Stufen auf dem Vorplatz... “

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  • by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), "Das Zwiegespräch mit dem jüngeren Bruder", written 1912, appears in Die Rückkehr des verlorenen Sohnes, no. 5

Based on:

  • a text in French (Français) by André Gide (1869 - 1951), "Dialogue avec le Frère Puîné", appears in Le Retour de l'enfant prodigue, no. 5, first published 1907
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Confirmed with Rainer Maria Rilke, Übertragungen, Insel-verlag, 1927, p.175. Note: Reutter's setting begins "Am Abend, da du heimkehrtest"


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