Da stieg ein Baum. O reine Übersteigung! O Orpheus singt! O hoher Baum im Ohr. Und alles schwieg. Doch selbst in der verschweigung ging neuer Anfang, Wink und Wandlung vor. Tiere aus Stille drangen aus dem klaren gelösten wald von Lager und Genist; und da ergab sich, daß sie nicht aus List und nicht aus Angst in sich so leise waren, sondern aus Hören. Brüllen, Schrei, Geröhr schien klein in ihren Herzen. Und wo eben kaum eine Hütte war, dies zu empfangen, ein Unterschlupf aus dunkelstem Verlangen mit einem Zugang, dessen Pfosten beben, -- da schufst du ihnen Tempel im Gehör.
Sonnets to Orpheus
by Stanley Grill (b. 1953)
1. Da stieg ein Baum
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- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), no title, appears in Die Sonette an Orpheus 1, no. 1
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2. Und fast ein Mädchen
Und fast ein Mädchen wars und ging hervor aus diesem einigen Glück von Sang und Leier und glänzte klar durch ihre Frühlingsschleier und machte sich ein Bett in meinem Ohr. Und schlief in mir. Und alles war ihr Schlaf. Die Bäume, die ich je bewundert, diese fühlbare Ferne, die gefühlte Wiese und jedes Staunen, das mich selbst betraf. Sie schlief die Welt. Singender Gott, wie hast du sie vollendet, daß sie nicht begehrte erst wach zu sein? Sieh, sie erstand und schlief. Wo ist ihr Tod? O, wirst du dies Motiv erfinden noch, eh sich dein Lied verzehrte? -- Wo sinkt sie hin aus mir? ... Ein Mädchen fast...
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- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), no title, appears in Die Sonette an Orpheus 1, no. 2
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3. Ein Gott vermags
Ein Gott vermags. Wie aber, sag mir, soll ein Mann ihm folgen durch die schmale Leier? Sein Sinn ist Zwiespalt. An der Kreuzung zweier Herzwege steht kein Tempel für Apoll. Gesang, wie du ihn lehrst, ist nicht Begehr, nicht Werbung um ein endlich noch Erreichtes; Gesang ist Dasein. Für den Gott ein Leichtes. Wann aber sind wir? Und wann wendet er an unser Sein die Erde und die Sterne? Dies ists nicht, Jüngling, Daß du liebst, wenn auch die Stimme dann den Mund dir aufstößt, - lerne vergessen, daß du aufsangst. Das verrinnt. In Wahrheit singen, ist ein andrer Hauch. Ein Hauch um nichts. Ein Wehn im Gott. Ein Wind.
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- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), no title, appears in Die Sonette an Orpheus 1, no. 3
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4. O ihr Zärtlichen
O ihr Zärtlichen, tretet zuweilen in den Atem, der euch nicht meint, laßt ihn an eueren Wangen sich teilen, hinter euch zittert er, wieder vereint. O ihr Seligen, o ihr Heilen, die ihr der Anfang der Herzen scheint. Bogen der Pfeile und Ziele von Pfeilen, ewiger glänzt euer Lächeln verweint. Fürchtet euch nicht zu leiden, die Schwere, gebt sie zurück an der Erde Gewicht: schwer sind die Berge. Schwer sind die Meere. Selbst die als Kinder ihr pflanztet, die Bäume, wurden zu schwer längst; ihr trüget sie nicht. Aber die Lüfte... aber die Räume...
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- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), no title, appears in Die Sonette an Orpheus 1, no. 4
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5. Errichtet keinen Denkstein
Errichtet keinen Denkstein. Laßt die Rose nur jedes Jahr zu seinen Gunsten blühn. Denn Orpheus ists. Seine Metamorphose in dem und dem. Wir sollen uns nicht mühn um andre Namen. Ein für alle Male ists Orpheus, wenn es singt. Er kommt und geht. Ists nicht schon viel, wenn er die Rosenschale um ein Paar Tage manchmal übersteht? O wie er schwinden muß, daß ihrs begrifft! Und wenn ihm selbst auch bangte, daß er schwände. Indem sein Wort das Hiersein übertrifft, ist er schon dort, wohin ihrs nicht begleitet. Der Leier Gitter zwingt ihm nicht die Hände. Und er gehorcht, indem er überschreitet.
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- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), no title, appears in Die Sonette an Orpheus 1, no. 5
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6. Ist er ein Hiesiger?
Ist er ein Hiesiger? Nein, aus beiden Reichen erwuchs seine weite Natur. Kundiger böge die Zweige der Weiden, wer die Wurzeln der Weiden erfuhr. Geht ihr zu Bette, so laßt auf dem Tische Brot nicht und Milch nicht; die Toten ziehts –. Aber er, der Beschwörende, mische unter der Milde des Augenlids ihre Erscheinung in alles Geschaute; und der Zauber von Erdrauch und Raute sei ihm so wahr wie der klarste Bezug. Nichts kann das gültige Bild ihm verschlimmern; sei es aus Gräbern, sei es aus Zimmern, rühme er Fingerring, Spange und Krug.
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- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), appears in Die Sonette an Orpheus 1, no. 6
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Researcher for this page: Malcolm Wren [Guest Editor]7. Rühmen, das ists!
Rühmen, das ists! Ein zum Rühmen Bestellter, ging er hervor wie das Erz aus des Steins Schweigen. Sein Herz, o vergängliche Kelter eines den Menschen unendlichen Weins. Nie versagt ihm die Stimme am Staube, wenn ihn das göttliche Beispiel ergreift. Alles wird Weinberg, alles wird Traube, in seinem fühlenden Süden gereift. Nicht in den Grüften der Könige Moder straft ihm die Rühmung lügen, oder daß von den Göttern ein Schatten fällt. Er ist einer der bleibenden Boten, der noch weit in die Türen der Toten Schalen mit rühmlichen Früchten hält.
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- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), no title, appears in Die Sonette an Orpheus 1, no. 7
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Research team for this page: Emily Ezust [Administrator] , Malcolm Wren [Guest Editor]8. Nur im Raum der Rühmung
Nur im Raum der Rühmung darf die Klage gehn, die Nymphe des geweinten Quells, wachend über unserm Niederschlage, daß er klar sei an demselben Fels, der die Tore trägt und die Altäre. – Sieh, um ihre stillen Schultern früht das Gefühl, daß sie die jüngste wäre unter den Geschwistern im Gemüt. Jubel weiß, und Sehnsucht ist geständig, – nur die Klage lernt noch; mädchenhändig zählt sie nächtelang das alte Schlimme. Aber plötzlich, schräg und ungeübt, hält sie doch ein Sternbild unsrer Stimme in den Himmel, den ihr Hauch nicht trübt.
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- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), appears in Die Sonette an Orpheus 1, no. 8
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Researcher for this page: Malcolm Wren [Guest Editor]9. Nur wer die Leier
Nur wer die Leier schon hob auch unter Schatten darf das unendliche Lob ahnend erstatten. Nur wer mit Toten vom Mohn aß, von dem ihren, wird nicht den leisesten Ton wieder verlieren. Mag auch die Spieglung im Teich oft uns verschwimmen: Wisse das Bild. Erst in dem Doppelbereich werden die Stimmen ewig und mild.
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- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), no title, appears in Die Sonette an Orpheus 1, no. 9
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17. Zu unterst der Alte
Zu unterst der Alte, verworrn, all der Erbauten Wurzel, verborgener Born, den sie nie schauten. Sturmhelm und Jägerhorn, Spruch von Ergrauten, Männer im Bruderzorn, Frauen wie Lauten... Drängender Zweig an Zweig, nirgends ein freier.... Einer! O steig... o steig... Aber sie brechen noch. Dieser erst oben doch biegt sich zur Leier.
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- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), no title, appears in Die Sonette an Orpheus 1, no. 17
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Researcher for this page: Malcolm Wren [Guest Editor]19. Wandelt sich rasch
Wandelt sich rasch auch die Welt wie Wolkengestalten, alles Vollendete fällt heim zum Uralten. Über dem Wandel und Gang, weiter und freier, währt noch dein Vor-Gesang, Gott mit der Leier. Nicht sind die Leiden erkannt, nicht ist die Liebe gelernt, und was im Tod uns entfernt, ist nicht entschleiert. Einzig das Lied überm Land heiligt und feiert.
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- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), no title, appears in Die Sonette an Orpheus 1, no. 19
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21. Wir sind die Treibenden
Wir sind die Treibenden. Aber den Schritt der Zeit, nehmt ihn als Kleinigkeit im immer Bleibenden. Alles das Eilende wird schon vorüber sein ; denn das Verweilende erst weiht uns ein. Knaben, o werft den Mut nicht in die Schnelligkeit, nicht in den Flugversuch. Alles ist ausgeruht : Dunkel und Helligkeit, Blume und Buch.
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- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), no title, appears in Die Sonette an Orpheus 1, no. 22
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26. Du aber, Göttlicher
Du aber, Göttlicher, du, bis zuletzt noch Ertöner, da ihn der Schwarm der verschmähten Mänaden befiel, hast ihr Geschrei übertönt mit Ordnung, du Schöner, aus den Zerstörenden stieg dein erbauendes Spiel. Keine war da, dass sie Haupt dir und Leier zerstör. Wie sie auch rangen und rasten, und alle die scharfen Steine, die sie nach deinem Herzen warfen, wurden zu Sanftem an dir und begabt mit Gehör. Schließlich zerschlugen sie dich, von der Rache gehetzt, während dein Klang noch in Löwen und Felsen verweilte und in den Bäumen und Vögeln. Dort singst du noch jetzt. O du verlorener Gott! Du unendliche Spur! Nur weil dich reißend zuletzt die Feindschaft verteilte, sind wir die Hörenden jetzt und ein Mund der Natur.
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- by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), no title, written 1922, appears in Die Sonette an Orpheus 1, no. 26
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- ENG English [singable] (T. P. (Peter) Perrin) , copyright © 2009, (re)printed on this website with kind permission
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